Alfred Kerr war bis 1933 ein äußerst einflussreicher Theater- und Literaturkritiker – sein geistreicher und oft ironischer Ton erfreute sich bei der Leserschaft großer Beliebtheit. 1924 unternahm Kerr seine dritte Reise in die USA; seine Reportagen aus Übersee erschienen 1925 auch als Buch. Die große Begeisterung und Faszination des Schriftstellers für sein Reiseland können wir nun in einer Neuausgabe nacherleben. Bedauerlicherweise hält diese keinerlei einordnenden Kommentar für den Leser bereit.
Schon zu Beginn setzt der Autor den Ton: „Im Frühling 1924 fuhr ich nach Amerika. Zum dritten Mal … gepackt, erquickt, behext. Sie nennen dort eine Gegend ‚The road of a thousand wonders‘. Aber das ganze Reich, wildmächtig, zum Zerspringen voll von Überraschungen, ist ein Weg der tausend Wunder.“ Etwas später konstatiert er, das Wesen Amerikas sei „Naturkraft und Kraftnatur“.
Kerr bietet keine zusammenhängenden Schilderungen des Gesehenen, eher Impressionen, die gleichwohl starke Schlaglichter auf seine Erlebnisse werfen. Das beginnt schon damit, dass er im Weißen Haus von Präsident Calvin Coolidge empfangen wird. Kerr mutmaßt, dass der asketische, aus Neuengland stammende Präsident sowohl etwas gegen die „geniale Lärmstadt New York“ als auch gegen das „geil blühende, romantisch durchsetzte“ Kalifornien habe.
Lebhaft und witzig, anschaulich und überraschend schildert der Autor im Folgenden seine Eindrücke von New Orleans (mit seinen französischen Einflüssen, nicht zuletzt in der Damenwelt), vom Grand Canyon (dem gigantischen Erdriss voll unsagbarer Farben), oder von Phoenix, Arizona. Über Indianerinnen lernt er dort von deren weißer Lehrerin, dass diese zwar nicht denken könnten, aber besser sehen und hören als die Weißen. Auf der untersten Stufe der sozialen Leiter stehen die „Neger“, die die ungeliebten Arbeiten verrichten und von aller Welt verachtet werden, wie Kerr kritisch vermerkt.
Überhaupt preist er nicht alles: Die Ruhmsucht und der Hang zur Übertreibung, das Kindische mancher Männer oder der Schlankheitswahn der amerikanischen Frauen gefallen ihm nicht. Dennoch, am Ende wünscht sich Kerr, die Alte Welt könnte amerikanischer, weniger kompliziert, dafür entschiedener werden. Angesichts von Vereinigten Staaten, die nicht wenigen Zeitgenossen heute Widerwillen, ja Angst einflößen, lesen sich Kerrs Elogen auf das Land der Freiheit mit einer gewissen Wehmut.
Rezension: Dr. Heike Talkenberger
Alfred Kerr
Yankeeland
Eine Reise durch Amerika 1924
Aufbau Verlag, Berlin 2019, 241 Seiten, € 22,–