Zahllose Straßen wurden hierzulande mittlerweile umbenannt, weil über die einstigen namensgebenden Personen negative Aspekte ans Licht kamen – meist aus der Zeit des Nationalsozialismus. Und so trägt auch in Göttingen mittlerweile eine Straße den Namen des Widerstandskämpfers Adam von Trott zu Solz, die zuvor Rudolf-Stich-Weg hieß.
Der Person Rudolf Stich widmeten sich nun Katharina Trittel, Stine Marg und Bonnie Pülm in einem Forschungsprojekt des Göttinger Instituts für Demokratieforschung. Geboren 1875 als Sohn eines Arztes in Nürnberg, hatte Stich den Lehrstuhl für Chirurgie von 1911 bis 1945 an der Georg-August-Universität Göttingen inne und war Leiter der dortigen Chirurgischen Klinik. Als Wissenschaftler war er international anerkannt, als Dozent beliebt. Ihm wurden nach 1945 Ehrungen wie die Göttinger Ehrenbürgerschaft oder das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik zuteil. Er war jedoch auch Mitglied in der SS und der NSDAP, im NS-Ärztebund und dem NS-Altherrenbund. Ein umstrittener Mann also. Dennoch erinnerte man sich in der Stadt durchweg positiv an die Koryphäe.
Aus diesem Grund stehen für die drei Autorinnen die Fragen im Vordergrund, wie ein humanistisch gebildeter Mann wie Stich seine persönlichen Überzeugungen mit der NS-Ideologie vereinbaren und wie eine derart positive Erinnerungskultur in Bezug auf seine Person entstehen konnte. Stich selbst verknüpfte den Nationalsozialismus immer wieder mit den Begriffen „Führer“ und „(Volks-) Gemeinschaft“, weshalb diese Begriffe als analytische Zugänge fungieren. Zahlreiche Zitate dienen als Argumentationsgrundlage.
Die Autorinnen recherchierten für ihre Arbeit in insgesamt in 17 Archiven und wählten einen interessanten und sehr modernen methodischen Ansatz. Wie bereits im Untertitel vermerkt, wird Rudolf Stich im Kaleidoskop betrachtet: Sie teilen dafür das Leben des Protagonisten in einzelne Stränge auf und betrachten diese gesondert, um eine moralische Vorverurteilung zu vermeiden. So wird Stich separat als Bürger, Mediziner und Hochschullehrer wahrgenommen; jede dieser Facetten wird daraufhin noch einmal unterteilt. Obwohl der unkonventionelle Aufbau auf den ersten Blick verwirrend sein mag, ist er dennoch schlüssig. Eine klar definierte Fragestellung und die Erklärung der Untersuchungsmethode helfen beim Verständnis.
Es ist nicht das Ziel der Arbeit, den Göttinger Arzt zu verurteilen, sondern sich letztlich von einem Schwarz-Weiß-Denken zu lösen. Für die Ermittlung der Grautöne stellt das Kaleidoskop das ideale Werkzeug dar. Aufgrund mehrerer Zäsuren in seinem Leben und der Ambivalenz seiner Verhaltensweisen und Selbstdeutungen wird Rudolf Stich von den Autorinnen als „oszillierende Persönlichkeit“ bezeichnet. Daher ist es auch passend, dass das Buch dem Leser die abschließende Bewertung der umstrittenen Person offen lässt.
Neben einigen formalen Fehlern ist jedoch problematisch, dass die Vereinigungen, in denen Stich Mitglied war, nicht genauer beschrieben werden. Vorkenntnisse beim Leser erleichtern infolgedessen das Textverständnis.
Rezension: Maximilian Brückner