Wer war Mr. Selden? Selbst Kennern des 17. Jahrhunderts dürfte die Antwort nicht leichtfallen. Doch nach der Lektüre dieses Buchs weiß man: John Selden (1584 –1654) war ein bedeutender Mann und auf vielen Feldern aktiv – als Rechtsanwalt, Mitglied des Unterhauses und Verfasser eines berühmten (Gegen-)Gutachtens zur Freiheit der Meere, als Gelehrter, früher Orientalist und Sammler von Büchern. Und er besaß eine großformatige chinesische Karte, die er der „Bodleian Library“ in Oxford hinterließ. Timothy Brook, Professor für Sinologie an der University of British Columbia, bringt diese Karte zum Sprechen.
Sie muss zwischen 1607 und 1609 entstanden sein, und ihre Bedeutung erklärt sich, wenn man sie in den Kontexten ver‧ortet, die sie anspricht. Sie zeigt China diesseits und jenseits der Großen Mauer, in der Mitte das Südchinesische Meer sowie die Küsten und Inseln ringsum. Es ist der Raum, den China traditionell als Hoheitsgebiet und Einflussbereich beanspruchte, in den aber seit dem 16. Jahrhundert portugiesische, holländische und englische Schiffe eindrangen, um mit Gewürzen zu handeln. Lukrative Chancen und massive Konflikte ergaben sich daraus. Selden konnte die Karte nicht lesen. Sie blieb ein Sammlerstück für ihn. Erst als Michael Shen Fuzong, ein Jesuitenzögling aus Nanjing, in Oxford eintraf, ergab sich – ein Vierteljahrhundert nach Seldens Tod – eine Gelegenheit, die Karte genauer zu studieren. Der Kustos der Bibliothek und sein Gast arbeiteten eng zusammen: Es waren die Anfänge der chinesischen Studien in England. Doch die allgemeine Aufmerksamkeit hielt nicht an, und die Karte geriet aus dem Blick. Erst die gegenwärtige Konstellation – die Rückkehr Chinas auf die Weltbühne, die Frage nach den Frühformen der Globalisierung, das zunehmende Inter-esse an Geographie, Raum und Karten – rückt sie wieder ins Licht. Brook bespricht ihren Nutzen für die Seefahrt, vergleicht sie mit nautischen Handbüchern der Zeit und bringt sie mit den vieldiskutierten Fahrten des kaiserlichen Admirals Zheng He nach Südostasien, Indien und sogar Ostafrika (1405 –1433) in Verbindung. Doch manche Fragen bleiben offen, Fragen nach den Vorbildern, dem Zweck und dem Autor der Karte. Von „Geheimnissen“ spricht der Verfasser.
Brook hat ein wissenschaftlich fundiertes, äußerst anregendes und gleichzeitig persönliches Buch geschrieben. Am Anfang lernt man den Autor als Austauschstudenten im China der Kulturrevolution kennen, am Ende sieht man ihn an Seldens Grab in Oxford. Über den Titel der deutschen Übersetzung kann man streiten. Nicht China, sondern viel neues Wissen kam damals nach Europa. Brook zeigt, welcher Grad von globaler Vernetzung sich darin spiegelt.
Rezension: Prof. Dr. Folker Reichert