Dieses Buch ist zunächst der Bericht eines Abenteuers: Der Stuttgarter Emeritus August Nitschke akzeptierte trotz wohlgemeinter Warnungen die Einladung, an der Universität des winterlich rauhen Changchun in der Mandschurei über das europäische Mittelalter zu lesen. Das Innenleben der Hochschule – eine erstaunliche Szene. Über Verständigungsprobleme und landeseigene Hindernisse hinweg führten Lehre und Diskussion zu gegenseitig bereichernder Vertrautheit von Dozent und Studenten.
Unser Mittelalter schildert Nitschke mit neuartigen, überraschenden Thesen und Bildern. Er warnt vor der Illusion, Handeln und Denken früherer Menschen zu verstehen, wenn man ihre Texte meint übersetzen zu können. So zeigte er den Studenten, wie Quellenaussagen in das Weltbild und in die Zukunftsvorstellungen des Autors eingebettet sind und von diesen her zu verstehen sind. Zur Erschließung dieser Vorstellungen sind die in den Kunstwerken der Epoche geschilderten Gesten und Haltungen hilfreich, die der Autor seit Jahrzehnten erforscht hat.
Aus den Zukunftserwartungen leiteten die mittelalterlichen Menschen Vorstellungen von Schuld und Sühne im Recht, von Erziehung, Kampfesformen und politische Ziele ab. Der wohl tiefgreifendste Wandel der europäischen Rechtsvorstellungen – von einem Sühnerecht zum Strafrecht mit seinen Körperstrafen – wird von veränderten Zukunftserwartungen her verständlich gemacht.
Auch der Umbruch des „politischen“ Weltbilds vom germanischen Früh- zum abendländischen Hochmittelalter findet eine Erklärung: Die Germanen trennten die destruktiven Mächte der Zeitabschnitte von Nacht und Nebel von den lichtbringenden der Sonne und sahen sich in deren Widerstreit hineinverwoben. Sie nahmen als Krieger in der Erwartung Partei, unvergängliche Ehre damit zu gewinnen.
Seit dem 8. Jahrhundert suchten die Menschen dann, wie die Buchmalerei erkennen läßt, Teilhabe an einem Strom, der aus dem himmlischen Jenseits herabkommt. Sie erhofften und forderten von längst verstorbenen Menschen – Heiligen und Aposteln, vor allem St. Petrus – tatkräftige Hilfe und Anleitung, so daß diese Erwartungen zu geschichtsmächtigen Faktoren wurden.
Die Menschen des 11. und 12. Jahrhunderts brachen mit einer neuen, diesseitigen Zukunftswahrnehmung aus jahrhundertealten statischen Herrschaftsverhältnissen auf, konnten neue Lebensformen wählen und selbst gestalten, etwa die Bindung an die heimische Grundherrschaft lösen oder in ihr verharren, als bäuerlicher Siedler oder als Stadtbürger in den Osten gehen oder Ministeriale werden, um in dem jeweils zugehörigen Rechtskreis dauernde Sicherheit zu erlangen.
Im 12. Jahrhundert setzte sich das Bildungsziel klerikaler Studenten, die auf intellektuelle Selbständigkeit bedacht waren, von den formellen Ausbildungszielen ab, wie sie die höfische Erziehung beherrschten. Auch die Erklärungsmodelle der Naturwissenschaftler vom 10. bis zum 13. Jahrhundert erweisen sich als von den jeweiligen Zukunftsvorstellungen beeinflußt.
Eine an den sich wandelnden Zukunftserwartungen der Menschen orientierte Geschichte des Mittelalters gab es bisher nicht. Sie wird hier – unter Einbeziehung der Kritik der Studenten – höchst lebendig entwickelt. Aus dem Bericht, wie der Autor bei jungen Chinesen das Interesse am europäischen Mittelalter zu wecken weiß, kann der Leser faszinierende Bilder und Deutungen von Hauptphänomenen dieser Epoche gewinnen.
Rezension: Eickhoff, Ekkehard