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Das Ringen ums letzte Prozent

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Das Ringen ums letzte Prozent
Die Klärwerke in Deutschland gelten international als vorbildlich. Doch auch ihnen gehen manche chemischen Rückstände und Krankheitskeime durch die Lappen. Eine zusätzliche Klärstufe soll Abhilfe schaffen.

„Sehen Sie, das Wasser ist kristallklar“, sagt Thomas Grünebaum. Der Ingenieur steht auf einem Eisenrost. Unter ihm rauscht und gurgelt es. Er beugt sich über den Auslauf der Kläranlage. Von dort fließt das Wasser ab in die Ruhr, die ein paar Meter entfernt vorbeiführt. Ab und an weht eine eklige Duftwolke heran, typisch Kläranlage. Doch Grünebaum, der Chef-Planer der Anlage, ist zufrieden. „Wenn wir mit Aktivkohle arbeiten, fehlt der Gelbstich, den das Wasser hier sonst hat“, sagt er.

Aber um die Farbe geht es gar nicht. Die Kläranlage in der nordrhein-westfälischen Kleinstadt Schwerte ist für 1,9 Millionen Euro aufgerüstet worden, um zu testen, wie sich chemische Mikroverunreinigungen und krankmachende Keime am effektivsten aus dem Abwasser entfernen lassen. Schwerte ist ein Pilotprojekt für die Kläranlagen der Zukunft. Grünebaum sagt: „Wir müssen gerüstet sein, auch die Spurenstoffe zu eliminieren – selbst wenn wir noch nicht genau wissen, ob sie für Mensch und Umwelt langfristig gefährlich sind.“

Eigentlich gilt die Abwasser-Behandlung in Deutschland als vorbildlich. Die Zeiten, als Schaumberge auf Flüssen, stinkende Kanäle und Fischsterben Schlagzeilen machten, sind vorbei. Rund 10 000 Kläranlagen gibt es zwischen Flensburg und Garmisch. Fast alle haben mindestens zwei Reinigungsstufen: eine mechanische und eine biologische.

Viel besser geht es nicht

Über 90 Prozent der Anlagen besitzen noch eine dritte Stufe, die Nährstoffe wie Phosphor und Stickstoff aus dem Abwasser holt. Viel besser geht es nicht. Johannes Pinnekamp, Direktor des Instituts für Siedlungswasserwirtschaft der RWTH Aachen, glaubt, hier seien „die Grenzen des technisch Machbaren und ökologisch Sinnvollen“ erreicht. Anders bei Spurenstoffen: „In klassischen Kläranlagen werden sie nur unzureichend entfernt.“

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Man findet ein breites Spektrum von Chemikalien im Abwasser, das aus Wohnvierteln, Industrie- und Gewerbebetrieben stammt: Arzneimittel-Rückstände, darunter Schmerzmittel, Antibiotika und Röntgen-Kontrastmittel. Eine zweite Gruppe von Spurenstoffen sind organische Chemikalien wie Weichmacher aus der Kunststoff-Produktion. Seit Kurzem kommen noch Nanopartikel hinzu, die in immer mehr Kosmetika und Farben stecken. Immer bessere Analysegeräte erlauben es, diese Substanzen nachzuweisen, selbst wenn sie nur in Konzentrationen von Milliardstel Gramm pro Liter vorkommen. Wie schädlich die Spurenstoffe sind, ist umstritten. Doch es gibt Hinweise, dass sie schon in winzigen Konzentrationen Umwelt oder Gesundheit schädigen.

Eine weitere Gefahr aus dem Abwasser sind Krankheitserreger wie Bakterien, Viren und Protozoen. Ihre Zahl wird in herkömmlichen Kläranlagen zwar im Schnitt um 99 Prozent vermindert. Nur: Die Wassermengen, die hier fließen, sind riesig. Daher halten Experten das restliche Prozent nicht für unerheblich – besonders, wenn die Erreger mit dem „geklärten“ Wasser in Bäche, Flüsse oder Seen gelangen, die zum Baden, Paddeln und Surfen genutzt werden. Meist geht es um relativ harmlose Erkrankungen wie Durchfall oder Augenentzündungen. Aber auch schwere Gesundheitsschäden sind möglich, etwa Hepatitis oder Hirnhautentzündung.

Es gibt also genug Gründe, die Kläranlagen nachzurüsten. Das Umweltbundesamt (UBA) hat Kommunen und Abwasserverbände aufgefordert, den Bau einer vierten Klärstufe zu prüfen. Um Spurenstoffe und Keime zu „knacken“, gibt es vier Technologien, die schon einige Pilot-Kläranlagen nutzen. Man rückt den Substanzen mit Membran-Filtern, UV-Strahlung, Ozon oder Aktivkohle zu Leibe – Methoden, die auch in Wasserwerken zum Einsatz kommen, aber angepasst werden müssen.

Bundesländer, in denen relativ viel Trinkwasser aus Oberflächengewässern gewonnen wird, gehen dabei voran. Nordrhein-Westfalen tut sich besonders hervor: Dort werden drei der vier Technologien erprobt. Im Kreis Düren läuft seit 1999 die erste Kläranlage mit Membran-Technik, die besonders die Bakterien- und Virenbelastung vermindert. Auch Ozon und Aktivkohle werden eingesetzt. Dabei geht es vor allem um das Eliminieren der Spurenstoffe und Biozide. Die Verminderung der Keime ist ein – erwünschter – Nebeneffekt.

Die Membran-Filterung funktioniert wie ein Kaffee-Filter, nur mit viel feineren Poren. Das Ab- wasser wird nach dem normalen Klä- ren durch poröse Kunststoff- oder Keramik-Membranen mit Poren von 0,2 bis 0,4 Mikrometer Größe gedrückt. Da die Parasiten und die meisten Bakterien größer als ein Mikrometer sind, halten die Filter sie komplett zurück, ebenso Viren, die an Schwebstoffe mit entsprechender Größe gebunden sind. Ein Bestrahlen mit UV-Licht nach der Filtration erhöht den Erfolg, wie die Kläranlage von Bad Tölz in Oberbayern beweist. Dort wird die UV-Technik in der Badesaison erfolgreich eingesetzt.

Die Kläranlage in Schwerte ist eine Besonderheit, weil darin gleich zwei der Verfahren dem Praxistest unterzogen werden – einzeln oder in Kombination. „Wir haben uns im Versuchsbetrieb für Aktivkohle und Ozon entschieden“, sagt Ingenieur Grünebaum, „ das verspricht maximale Reinigungsleistung.“

Ab in den Ozon-Reaktor

Die Schwerter Anlage hat zwei parallele Klärstraßen, in denen je die Hälfte des Abwassers der 50 000-Einwohner-Stadt gereinigt wird. Die erste ist konventionell – mit den drei Stufen Vorklär-, Belebtschlamm- und Nachklärbecken. Die zweite hat der Essener Ruhrverband, der die Kläranlage betreibt, technisch aufgerüstet. Nachdem das Wasser das dritte Becken durchströmt hat, befördern es Pumpen durch unterirdische Leitungen in die neue vierte Klärstufe. Sie besteht aus sechs stählernen Ozon-Reaktoren, drei Rührbecken für die Aktivkohle-Behandlung, einem Tank für Sauerstoff, einer Hochspannungsanlage und einem Silo für Pulveraktivkohle.

Zuerst fließt das Abwasser in die sechs Edelstahl-Behälter. Jeder fasst 32 Kubikmeter Ozon. Damit wird das Wasser durchmischt. Das hochreaktive Gas muss an Ort und Stelle hergestellt werden – mit großem Energieeinsatz. Nach der Ozon-Behandlung wird das Wasser gegebenenfalls in die drei offenen Becken gepumpt. Dort kommt über einen Mischer die Aktivkohle dazu, an der sich die übrigen Spurenstoffe und Reaktionsprodukte aus der „Ozonierung“ anlagern. In den sieben Meter breiten Becken drehen sich Rührer. Sie bringen die Aktivkohle mit Wasser in Berührung. Die Prozedur dauert eine halbe Stunde. Danach lenken Pumpen das Wasser zurück in die Klärstraße, wo die Aktivkohle mit dem Klärschlamm entnommen und entsorgt wird. Auswertungen zeigen, dass sich die Konzentrationen der Spurenstoffe um bis zu 90 Prozent verringern lassen, wenn das Abwasser mit Ozon oder Aktivkohle behandelt wird. Thomas Grünebaum betont aber: „Bis Null kann man die Belastung auch mit dem größten Aufwand nicht senken.“

Viel Erfahrung auf der Alb

Das andere abwassertechnische Pilotland, Baden-Württemberg, favorisiert die Aktivkohle. Im deutschen Südwesten, wo der Bodensee als Reservoir für die Versorgung von vier Millionen Menschen dient, hat man damit seit den 1990er-Jahren Erfahrung – in drei Kläranlagen auf der Schwäbischen Alb, in denen Schadstoffe aus der Textilindustrie bewältigt werden müssen. Im Land sind bisher sechs Anlagen mit Aktivkohle in Betrieb, weitere sind in Bau oder Planung.

Freilich: Es kostet Geld, das Wasser sicher zu machen. Beim UBA schätzt man, dass eine weitere Klärstufe die Abwassergebühren, die im bundesweiten Schnitt bei 2,29 Euro pro Kubikmeter liegen, um 3 bis 10 Cent pro Kubikmeter erhöhen würde. Ruhrverbands-Experte Grünebaum rechnet mit Zusatzkosten von 5 bis 20 Cent pro Kubikmeter. Für eine vierköpfige Familie wären das bis zu 40 Euro im Jahr.

Das UBA fordert daher zuerst Risikoanalysen, um festzustellen, wo die vierte Stufe nötig ist. Dort sei der Zusatzaufwand aber „ absolut vertretbar“, denn es würde weniger Krankheitsfälle geben – und das brächte wieder Einsparungen, nämlich bei den Gesundheitskosten. ■

Joachim Wille ist Redakteur bei der Frankfurter Rundschau. In Heft 10/2011 gab er sein bdw-Debüt: mit einem Bericht über das Wuppertal Institut.

von Joachim Wille

„Badeseen besser schützen“

Herr Flasbarth, wie groß ist das Risiko, sich durch nicht optimal geklärtes Abwasser zu infizieren, wenn man im Sommer in Seen oder Flüssen badet?

Wie viele Erkrankungen auf das Abwasser-Konto gehen, kann man bisher seriöserweise nicht angeben. Breit angelegte Untersuchungen dazu fehlen noch, und der Nachweis über den Infektionsweg ist oft schwer zu führen. Es hat aber mehrere Fälle gegeben, in denen sich Erkrankungswellen etwa auf belastete Badeseen zurückführen ließen – wie 2001 ein Ausbruch von Hirnhautentzündung in Nordhessen. Generell gilt: Die Wasserbelastung mit Krankheitserregern, Abbauprodukten aus Medikamenten und Nano-Materialien sollte reduziert werden.

Wie kann man sich infizieren?

In Ballungsgebieten kann der Anteil des aufbereiteten Wassers in den Gewässern bis zu 50 Prozent betragen – in den Sommermonaten sogar noch mehr. Wer beim Baden in der Nähe eines Auslaufs von Kläranlagen Wasser verschluckt oder durch die Nase aufnimmt, ist in Gefahr zu erkranken.

Wo sollte die zusätzliche Klärstufe eingerichtet werden, die Keime und Spurenstoffe vermindert?

In Ballungsgebieten, wo das geklärte Wasser in Gewässer mit Freizeitnutzung fließt, aber auch an Küsten mit Badestränden und bei Gewässern, die für Obst- und Gemüseplantagen angezapft werden.

Könnten sich EHEC-Bakterien über Kläranlagen ohne vierte Stufe ausbreiten?

Theoretisch ja. Aber man muss unterscheiden: Beim gefährlichen EHEC-Stamm, der im Sommer 2011 besonders in Norddeutschland schwere Krankheitsfälle auslöste, ist es sehr unwahrscheinlich, dass er sich über Wasser ausbreiten kann.

Mehr zum Thema

Internet

Informationen vom Umweltbundesamt zu Wasser-, Trinkwasser-und Gewässerschutz: www.umweltbundesamt.de/ wasser-und-gewaesserschutz/index.htm

Statistik zur Abwasserentsorgung in Deutschland (Bundesumweltministerium): www.bmu.de/binnengewaesser/ statistik/doc/2833.php

Kompakt

· Die meisten Kläranlagen in Deutschland besitzen drei Reinigungsstufen.

· Um die verbleibenden Reststoffe aus dem Abwasser zu fischen, gibt es mehrere technologische Ansätze.

· Problem: Die vierte Reinigungsstufe lässt die Abwassergebühren steigen.

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