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Ein neuer Sargnagel für die Kernkraft

Technik|Digitales

Ein neuer Sargnagel für die Kernkraft
Tschernobyl, Harrisburg, Tokaimura – an diesem Ranking atomarer Bedrohung wurde am Abend des 30. September in Deutschland heftig gefeilt. Umweltschützer, Politiker, Journalisten witterten eine neue Nuklearkatastrophe, obwohl die Informationen aus der japanischen Uran-Verarbeitungsanlage Tokaimura – 110 Kilometer von Tokio entfernt – noch spärlich flossen. Glücklicherweise haben sich die allerschlimmsten Befürchtungen nicht bestätigt. Dennoch: Rund 70 Menschen wurden starker radioaktiver Strahlung ausgesetzt. Für zwei oder drei hat der von ihnen mitverursachte Betriebsunfall vielleicht bald tödliche Folgen. Folgen hat dieser Vorfall auch für Kernkraftproduzenten in Deutschland. Nicht sofort, aber mit der Zeit – siechend eben.

Steter Tropfen…

Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, der GAU im US-Nuklearkraftwerk Three Mile Island oder die üblen Fahrlässigkeiten in der britischen Wiederaufarbeitungsanlage Windscale/Sellafield haben die öffentliche Euphorie über die Kernenergie deutlich gedrosselt. Freilich: Auch jedes Malheur, das sich irgendwo auf der Welt ereignet, kultivieren die Kernenergiegegner in Deutschland und bereiten es mit großem Geschick so auf, daß selbst der Kernenergie Wohlgesonnene irritiert sind.

Zwar halten sich bei Umfragen “Pro oder contra Kernenergie” die Antworten der Befragten auch heute noch oft die Waage. Doch die Zahl derer, die sich der Kernenergie mit Leib und Seele verschrieben haben, nimmt seit Jahren kontinuierlich ab: Die Fachleute, die mithalfen, Kernenergie in Deutschland ans Stromnetz zu bringen, sind im Ruhestand. Jene Männer also, die nicht selten persönlich beleidigt reagierten, wenn der von ihnen mit höchstem Engagement – und zweifellos auch höchstem Sicherheitsbewußtsein – getragene Einsatz für die “friedliche” Nutzung der Kernenergie in Frage gestellt wurde. Solche Kämpfer – viele darunter Ingenieure – bestimmten die Strategien der meisten Stromversorgungsunternehmen bis an die Schwelle der neunziger Jahre.

Nun sind an deren Stellen Kaufleute gerückt, die zur technischen Umsetzung von Otto Hahns Entdeckung ein weit weniger emotionales Verhältnis pflegen. Für den Bau eines neuen Kernkraftwerkes in Deutschland macht sich keiner dieser Manager wirklich stark. Aufgrund der sich nahezu ins Unendliche drehenden Sicherheitsschraube weiß jeder von ihnen: Neugebaute Kernkraftwerke müßten so vielen Richtlinien entsprechen, daß ein Block wenigstens zehn Milliarden Mark verschlingen würde. Und selbst dann gäbe es keinerlei Garantie, daß der neue Atommeiler auch Strom produzieren darf – wie der Müßiggang des 1987 fertiggestellten KKW Mülheim-Kärlich beweist.

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Deshalb pochen die Vorstände der Elektrizitätswirtschaft auch so sehr darauf, ihre bestehenden Produktionsanlagen unter allen Umständen zu erhalten. Galt vor zehn Jahren für deutsche Kernkraftwerke eine 40jährige Betriebsdauer als Obergrenze, so ist jetzt von 50, 60 oder noch mehr Jahren die Rede. Als Grund für die verlängerte Lebensdauer wird die gegenüber früher erheblich verbesserte Bekämpfung der Materialermüdung und Versprödung angeführt. Auch wenn dieses Argument zutrifft, dokumentiert es eher die Ausweglosigkeit der Strombetreiber. Wohlwissend, daß neue Kernkraftwerke in Deutschland alles andere als kostengünstig Strom erzeugen würden, versuchen sie, Bestehendes zu konservieren.

Die Kostenlawine gewinnt an Fahrt

Die Liberalisierung des europäischen Strommarktes tut ein übriges. Stromanbieter werden Elektrizität dort einkaufen, wo sie am preisgünstigsten ist: Kernenergie aus Frankreich etwa. Die eigene Produktionsbasis verliert dagegen an Attraktivität: Jeder Störfall irgendwo auf der Welt verteuert diesen Atomstrom, weil Diskussionen wieder und wieder zu Produktionsstopps und teuren Nachrüstungen führen.

So geht die Strategie die Kernenergiegegner endlich auch dort auf, wo sie viele Jahre mit umständlichen Rechnungen zu argumentieren versuchten: bei den Kosten. Lange konnte Strom aus Kernenergie nur teuer gerechnet werden, wenn – oft nebulöse – Umweltfolgekosten aufaddiert wurden. Inzwischen liegen die Kosten für deutschen Atomstrom oft so hoch, daß manch konventionelles E-Werk darunter liegt.

Die Schlamperei in der japanischen Uranverarbeitungsanlage wird die deutsche Debatte erneut anheizen und zu neuen, teuren Standards führen – ganz gleich, ob jene Technik in Deutschland überhaupt eingesetzt wird oder nicht. Tokaimura heißt damit auch: ein weiterer Sargnagel für Kernkraft made in Germany.

bdw-Chefredakteur Wolfgang Hess
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