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„Forschung ist kein Zigarettenautomat“

Technik|Digitales

„Forschung ist kein Zigarettenautomat“
Nanotechnologie ist der Hoffnungsträger, um neue Arbeitsplätze zu schaffen. Doch intensive Forschung allein genügt nicht. Mindestens genau so wichtig ist es, dass die technologische Umsetzung stimmt, sagt Prof. Helmut Schmidt.

bild der wissenschaft: Wer von förderungswürdigen Zukunftstechnologien spricht, führt stets die Nanotechnologie im Munde. Zu Recht, Herr Prof. Schmidt?

Schmidt: Natürlich ist bei jeder neuen Technologie am Anfang ein gewisses Maß an Übertreibung dabei, was die mittelfristigen Perspektiven angeht. Je weniger erwiesen ist, umso üppiger blüht die Fantasie. Und natürlich versucht man manches, was bereits da ist, in Richtung Nanotechnologie umzudefinieren, weil es Forschungsmittel dafür gibt. So firmieren ultradünne Schichten, die seit zig Jahren über die Sputtertechnik hergestellt werden, jetzt unter Nanotechnologie. Andererseits hat die Betrachtung solcher und weiterer Werkstoffe mit der Nanobrille sehr viel Neues gebracht. So hat man festgestellt, dass sich in diesen winzigen Dimensionen Materie völlig anders verhält als im bisher untersuchten Maßstab.

bdw: Beispielsweise?

Schmidt: Normalerweise löst sich Cerdioxid nicht in Wasser. Wenn Sie die Substanz aber in Form von Partikeln herstellen, deren Durchmesser unter drei Nanometern liegt, fängt sie an, löslich zu werden. Das hört sich sehr akademisch an. Doch praktisch bedeutet dies: Eingebaut in Korrosionsschutzschichten haben die Partikel eine selbstheilende Wirkung. Wird die Schicht durch einen Kratzer zerstört, so bauen diffundierende Cer-Ionen den Korrosionsschutz wieder auf.

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bdw: Bestimmt fahren Unternehmen, denen es auf einen wirksamen Oberflächenschutz ankommt, auf solche Entwicklungen ab.

Schmidt: Das trifft nur zum Teil zu. Denn in Europa haben wir es mit Industriestrukturen zu tun, die Werkstoffherstellung und Werkstoffanwendung trennen. Mit dem Ergebnis, dass der Werkstoffhersteller das gesamte Entwicklungsrisiko über fünf oder zehn Jahre trägt. Wenn der Stoff marktfähig ist, dann wegen der geringen Wertschöpfung mit wenig Gewinnspanne. Aus diesem Grund wird die Entwicklung neuer Werkstoffe in Europa nur durchgezogen, wenn man pro Jahr Zigtausende von Tonnen verkaufen kann. Bei nanotechnischen Produkten, besonders in der Oberflächentechnik – der Technologie mit einem der größten Anwendungspotenziale und einer Vielzahl neuer Produktmöglichkeiten – geht es dagegen meist um wenige Tonnen oder sogar nur um Kilogramm.

bdw: Japanische Firmen denken da anders.

Schmidt: In der Tat unterhält dort nahezu jedes große Unternehmen seine eigene Werkstoffentwicklung, die vom Konzern über den Verkauf des Endproduktes finanziert wird. Selbst Brauereien machen mit. So hat die Kirin-Brauerei – Teil des Mitsubishi-Konzerns – eine Abteilung für Glastechnologie ins Leben gerufen, um aus den vielen anfallenden Glasscherben etwas Vernünftiges zu machen. Jetzt entstehen daraus wunderschöne Fassadenplatten. Schon vor Jahren entwickelte die Brauerei biotechnologisch hergestellte Medikamente, die die Folgen der Chemotherapie bei Krebspatienten lindern. Zeigen Sie mir in Europa nur eine Brauerei, die solche Wege geht.

bdw: Trotz der Innovationsfreudigkeit geht die japanische Wirtschaft seit Jahren am Stock.

Schmidt: Faktum ist, dass es in Japan keine Technologiekrise gibt, sondern nur eine Finanzkrise. In Europa bahnt sich jedoch eine Technologiekrise an, weil wir zunehmend von Hochtechnologien abgekoppelt werden. Bei den wenigen, die wir noch haben, tun wir alles, um den Unternehmen außerdeutsche Standorte schmackhafter zu machen. Als Beispiel möchte ich nur die chemische Industrie nennen.

bdw: Was ist zu tun?

Schmidt: Es wäre ein kompletter Umdenkprozess in der Gesellschaft erforderlich, den ich jedoch nicht sehe. Möglich wären allerdings neue Konzepte für intelligente Produktentwicklungen. Wenn wir mit Nanotechnologien etwas bewegen wollen, müssen wir den Mehrwert des Gesamtproduktes entlang der Wertschöpfungskette im Auge haben und nicht nur den Verkauf eines innovativen Rohstoffes. Ihn können andere Länder nach wenigen Jahren in der Regel auch wieder preisgünstiger produzieren als wir – siehe Stahl. Gerade in der Nanotechnologie müssen wir viel stärker als bisher in strategischen Partnerschaften denken, weil nur über sie Wertschöpfung auch bei kleineren Werkstoffmengen erzielt werden kann. Nur wenn Wirtschaft und Nanowissenschaften Hand in Hand arbeiten, können sich die Firmen gegenüber der globalen Konkurrenz so positionieren, dass ihre Produkte – weil innovativer, besser, schöner – einen höheren Kaufanreiz ausüben. Um dies zu erreichen, muss der Staat Modelle fördern, die die vertikale Interdisziplinarität zum Inhalt haben. Konkret heißt dies: Die Nanomaterialien müssen so lange institutionell vorangetrieben werden, bis eine Firma mit der Technologie etwas anfangen kann und Marktchancen hat.

bdw: Ihr Modell der vertikalen Interdisziplinarität habe ich nicht verstanden.

Schmidt: Vertikal heißt, dass wir nicht mit der Grundlagenforschung aufhören, sondern anschließend auch noch eine industriell anwendbare Technologie entwickeln und – wenn es ein Kunde will – sogar noch eine Pilotfertigung bei uns am Institut auf die Beine stellen. Interdisziplinarität ist dadurch gegeben, dass wir in der ersten Stufe vorzugsweise Chemiker und Physiker beschäftigen, in der zweiten Ingenieure und in der dritten Technologie- und Produktionsexperten. Für einen strategischen Unternehmenspartner ist dieses Modell deshalb interessant, weil er nicht selbst die gesamten Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen mit erheblichem Zeit- und Finanzaufwand aufbauen muss. Ich kenne kein Unternehmen auf dieser Welt, das das Risiko auf sich nehmen kann, eine völlig neue Technologie zu entwickeln, um dann nach 15 Jahren festzustellen, dass es auf das falsche Pferd gesetzt hat. Deshalb wird auf der ganzen Welt öffentlich vorfinanziert, in der Regel aber in die Grundlagenforschung und viel zu wenig in die vertikale Interdisziplinarität. Darin genau besteht unsere Chance. Auf der Basis unserer Vorlaufentwicklung und unserer interdisziplinären Struktur kann der Partner zusammen mit uns ein marktgängiges Produkt entwickeln.

bdw: Haben Sie solche Projekte schon durchexerziert?

Schmidt: Bereits dutzendfach. Ein neues Ergebnis ist besonders beeindruckend: Durch eine von uns entwickelte Nanoglasschicht wird Edelstahl noch edler: Er nimmt keine Fingerabdrücke an und ist kratzfest. Der Clou der Nanoglasschicht ist, dass der durch sie veredelte Stahl umgeformt werden kann, ohne dass das Glas bricht. Produkte mit diesem veredelten Edelstahl werden sich mit Sicherheit am Markt durchsetzen.

bdw: Mit Ihrer Institutsstruktur betreten Sie in der Forschungsorganisation Neuland. Sie scheinen gleichwohl überzeugt zu sein, dass das Modell auch auf andere Disziplinen und Standorte angewandt werden kann.

Schmidt: Ich sehe das sogar auf europäischer Ebene, habe allerdings Bedenken, dass das Vorhaben von grundlagenorientierten Strömungen zerredet wird. Dort wird häufig argumentiert, man müsse nur die Grundlagen der Schlüsseltechnologien fördern, der Rest laufe von alleine. Doch nichts läuft von alleine. Viele Entscheider hierzulande haben nicht verstanden, was eine Innovation ist. Innovation ist Erfolg am Markt, lautet die Formel der Unternehmensberatung „Illinois Partners“. Dem stimme ich voll zu.

bdw: Fördermittel für Forschung und Entwicklung zu erhöhen, reicht offenbar bei weitem nicht, um den Standort Deutschland global abzusichern.

Schmidt: Forschung ist kein Zigarettenautomat, in den man oben Geld reinwirft, und unten kommt eine fertige Packung raus. Wir müssen uns vor allem darum kümmern, wie der Weg aussieht, auf dem das Geld in ein Produkt verwandelt wird. Doch diese Blickrichtung vermisse ich in vielen Fällen. Um aus Forschungsergebnissen Produkte zu machen, braucht man eine Technologie. Technologietransfer ist weit mehr als Wissenstransfer. 70 Prozent unserer Industriearbeitsplätze hängen von Werkstoffen ab. 75 Prozent unserer Industriearbeitsplätze stellt der Mittelstand. Wenn man diese beiden Zahlen anschaut, kann es doch nur heißen: Bringt heute Technologien mit neuen Werkstoffen so an den Mittelstand heran, dass er damit morgen Dinge produzieren kann, die ihm den Mehrwert verschaffen, den er in einer globalisierten Welt zum Überleben am Standort Deutschland braucht.

Das Gespräch führte Wolfgang Hess ■

Ohne Titel

Ausländische Firmen, die in den USA Patente anmelden, stellen sich dem Markt mit der härtesten Herausforderung. Nach einem Ranking, das die Innovationsforscherin Dora Marinova (Murdoch University, Australien) soeben publizierte, schneidet Frankreich dabei am besten ab. Ausschlaggebend für die Reihenfolge ist die technologische Spezialisierung, der Patentanteil, die Marktorientierung sowie die Zitationsrate.

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