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Häuser mit Schwimmblase

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Häuser mit Schwimmblase
Ein großer Teil der Niederlande liegt unter dem Meeresspiegel. Das Risiko künftiger Überflutungen durch die Klimaerwärmung wächst. Die Niederländer halten dagegen – mit schwimmfähigen Häusern.

Man fragt sich, ob den Mann der Neid zwackt, wenn er die Bilder im Fernsehen sieht: Die Aufnahmen von den Sandsäcken, den Pumpen, den Helfern im Schlauchboot, den überspülten Straßen. Es herrscht Hochwasser, wieder einmal. Und wieder einmal woanders, nicht bei ihm. Das muss doch frustrieren?

Er wäre viel zu wohlerzogen, um dergleichen zuzugeben. Kees West ist Geschäftsmann – zwei Häuser besitzt er, eines in Spanien und eines in den Niederlanden. Letzteres liegt so dicht an einem Seitenarm der Maas, dass er von seiner Terrasse aus bequem hineinspucken kann, falls ihm das beliebt. Wenn der Pegel des Flusses steigt, bekommt West das schnell mit. „Gestern stand das Wasser recht hoch und vor zwei Wochen auch schon einmal”, sagt er. Freilich kletterte es in beiden Fällen nur um ein paar Zentimeter – zu wenig.

Auf etwa zwei Meter über Normal müsste das Wasser steigen, bevor es den Garten überströmen könnte. West würde das nicht stören. Er hat extra Stauden und Sträucher gepflanzt, die das aushalten können: Weiden, Moose, Feuerdorn.

Kletterte der Pegel dann noch um ein paar Handbreit weiter, würde es spannend. Ob er es spüren wird, wenn sich das Haus von seiner Auflage löst? Wird das Gasfeuer im Kamin flackern, die Teller in den Küchenschränken klappern? Bestimmt wird der Hund auf dem Kissen in der Ecke wenigstens kurz den Kopf heben. Ab dann würde das Haus auf dem Fluss treiben wie ein Korken im Abwaschbecken.

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Was wie eine Erzählung aus einem Kinderbuch klingt, ist wahr: Kees West besitzt ein Haus, das schwimmen kann. Es steht auf der wasserzugewandten Seite des Deichs in Maasbommel, einem verschlafenen Dorf 100 Kilometer südöstlich von Amsterdam. Dort ist es das Zweite in einer Reihe von 32 Häusern, die auch alle schwimmen können. Sie sind amphibisch – so nennt es der Erbauer, die Konstruktionsfirma Dura Vermeer. Vermutlich ist es die erste amphibische Siedlung der Welt.

Prompt strömen die Neugierigen von nah und fern nach Maasbommel, aus den USA, aus Schweden, Japan und Deutschland. Sie bestaunen die sechs Meter weit aus dem Boden ragenden Pfähle, an denen die Häuser festgemacht sind, damit sie bei Hochwasser nicht wegtreiben. Sie bewundern die flexiblen Leitungen und Rohre, über die Gas, Strom und Wasser in die Gebäude hinein und die Abwässer heraus fließen, und betrachten aufmerksam die Wände, die – untypisch für Holland – aus Holz und damit sehr leicht sind.

Was die Besucher sehen, ist eigentlich recht langweilig. Ein Haus, das schwimmen kann, sieht auch nur aus wie ein Haus, solange es an Land steht. Im Fall von Kees West und seinen Nachbarn heißt das: zweigeschossig, halbrundes Dach, mit Terrasse nach vorne und überschaubar kleinem Garten nach hinten.

Doch die Häuser sind längst mehr als ausgefallene Behausungen. Sie sind zum Symbol geworden für den Richtungswechsel einer ganzen Nation. Wer sich heute auf die Web-Seite des niederländischen Ministeriums für Verkehr und Wasser klickt, findet eine Mitteilung, die bis vor Kurzem undenkbar gewesen wäre. „Das Ministerium reibt sich nicht länger damit auf, gegen das Wasser anzukämpfen”, teilt die höchste Instanz in Sachen Flutkontrolle der Bevölkerung dort mit. „Wir suchen nun Wege, um gemeinsam mit dem Wasser zu leben.”

Hinter den dürren Worten verbirgt sich eine Kurskorrektur, wie sie drastischer kaum sein könnte: Rund 800 Jahre haben die Niederlande das Wasser kollektiv bekämpft, es Quadratmeter für Quadratmeter zurückgedrängt, es zu beherrschen versucht und dafür Pumpwerke und Deichanlagen errichtet, die zu den eindrucksvollsten Bauten der Welt zählen. Nun macht das Land abrupt einen Rückzieher. Der Grund ist der Klimawandel.

Zugegeben: Auch ohne steigenden Ozeanspiegel zählt es zu den aberwitzigen Ideen, sich in den Niederlanden anzusiedeln. Rund zwei Drittel des Landes – darunter die Großstädte Amsterdam, Den Haag und Rotterdam – liegen jetzt schon unter Meereshöhe oder doch so niedrig, dass sie bei Stürmen regelmäßig überflutet werden. „Forscher sagen, dass wir nicht in Holland wohnen sollten” , sagt Herman Havekes von der Unie van Waterschappen, dem Zusammenschluss der regionalen Wasserbehörden. „Aber die meisten Holländer denken sich da gar nichts dabei.”

Gut 16 Millionen Menschen leben in den Niederlanden – einer der dichtest bevölkerten Regionen der Welt. Was das Land bewohnbar macht, sind rund 3500 Kilometer Deiche und Dünen entlang der Küste sowie der großen Flüsse. Dazu kommen 14 000 Kilometer Dämme und Wälle bei Kanälen und Poldern. Tausende von Menschen arbeiten ständig daran, das Land trocken zu halten. Die Kosten für den Unterhalt der Deiche, Dünen und Pumpanlagen: mehrere Millionen Euro pro Tag.

Der chronische Kampf gegen das Wasser hat die nationale Identität stark geprägt. „Die Waterschappen – auf deutsch: Wasserschaften – waren eine unserer ersten demokratischen Einrichtungen, manche gehen zurück bis ins 13. Jahrhundert”, sagt Havekes. „Die Bauern taten sich zusammen, weil sich das Wasser nicht an Grundstücksgrenzen hielt.” Flutkatastrophen waren dennoch unvermeidlich. Das Land erlebte so viele, dass selbst Experten der Überblick fehlt. 1570 tötete eine einzige Überschwemmung 5000 Niederländer. Zum Vergleich: Die „Große Flut” von Hamburg 1962 kostete rund 300 Menschenleben. Traumatisch war auch der Deichdurchbruch von 1953, als nach einer stürmischen Winternacht rund 2000 Quadratkilometer Land unter Wasser standen. 72 000 Menschen wurden evakuiert, 47 000 Gebäude zerstört, 1836 Menschen starben.

Die Katastrophe bewog das Land zum Bau der Deltawerke, einem System von so mächtigen Flutbarrikaden entlang der Küste, dass manche es als das achte Weltwunder bezeichnen. Rund 13 Milliarden Euro investierte der Staat bislang in dieses maritime Verteidigungssystem, dessen letztes Teilstück, die „ Maeslantkering”, 1997 vollendet wurde: Zwei bewegliche Tore, von denen jedes so hoch ist wie ein siebenstöckiges Gebäude, können seither Rotterdam bei Sturmfluten abriegeln.

Eine Weile schien es, als könne Holland durch solche technologischen Kraftakte tatsächlich die Oberhand über die Natur gewinnen. „Seit 1953 ist niemand mehr durch Überflutungen ertrunken”, sagt Havekes. „Das ist die längste Periode in unserer Geschichte.” Die Niederländer bauten auf immer tieferen Böden. Wer heute nach Amsterdam fliegt, landet bereits fast fünf Meter unter dem Meeresspiegel. Damit befindet er sich noch rund zwei Meter über dem niedrigsten Punkt des Landes: Das Städtchen Nieuwerkerk aan der Ijssel liegt an seinem tiefsten Punkt 6,74 Meter unter Null – ohne Deiche würde das Wasser hier jeden Tag über die Hausdächer schwappen.

Doch eine Reihe von Vorfällen in den Neunzigerjahren erschütterte die Behaglichkeit. 1993 stieg die Maas auf einen Rekordpegelstand von sechs Metern über Normal – das Land zitterte, ob die Deiche halten würden. Zwei Jahre später drohte auch der Rhein, sein Bett zu sprengen – 250 000 Menschen wurden evakuiert. Die Straßen waren voll mit Autos, beladen mit Matratzen, Vogelkäfigen und anderen Habseligkeiten. In den Städten patroullierten die Soldaten. 1998: der nächste Schrecken. Extreme Regenfälle setzten weite Teile Süd- und Nordhollands unter Wasser. Der Schaden: eine halbe Milliarde Euro.

Der Staat begann erneut, die Deiche zu erhöhen. Doch immer lauter wurden die Zweifel, ob dies genüge. Klimaforscher haben Szenarien entwickelt, wonach die Winter in Holland in den kommenden 100 Jahren bis zu 25 Prozent mehr Niederschlag bringen könnten. Das würde die Flüsse auf bisher unbekannte Maße anschwellen lassen. Allein für den Rhein prophezeien Forscher Durchströmvolumen von bis zu 18 000 Kubikmeter pro Sekunde – dem Tageswasserverbrauch aller Holländer in weniger als zwei Minuten. Gleichzeitig könnte das Abschmelzen der Polkappen und die erwärmungsbedingte Ausdehnung des Meerwassers den Spiegel der Nordsee bis 2100 um 1,10 Meter heben.

Theoretische Modelle, gewiss. Doch Holland kann es sich nicht leisten abzuwarten. Bereits heute leben neun Millionen Menschen in den durch Überflutung gefährdeten Gebieten, mehr als jeder zweite Einwohner des Landes. Rund 70 Prozent der Wirtschaftskraft sind dort angesiedelt. „Wir brauchen eine neue Strategie”, folgerte eine 1999 von Regierung und Waterschappen eingesetzte Kommission, „eine Politik, die Wasser weniger als Feind und mehr als Verbündeten sieht”.

In vielerlei Hinsicht ist der neue Ansatz nicht minder kühn als der alte. Manche Flussdeiche sollen zurückverlegt, erniedrigt oder sogar entfernt werden, um kontrollierte Überschwemmungen zu ermöglichen – andere werden weiter erhöht. Neubaugebiete müssen Grundstücke opfern, wo Wasser gelagert werden kann.

In einem Megaprojekt begann man etwa 2003 nahe Groningen ein 800 Hektar großes Binnenmeer auszuheben – nie zuvor in der Geschichte des Landes wurde eine so große, landwirtschaftlich nutzbare Fläche freiwillig dem Wasser überlassen. Bei Flutkatastrophen sollen darin bis zu vier Millionen Kubikmeter Nass zwischengespeichert werden können. Auch will die Regierung in den kommenden Jahrzehnten große Landflächen als Überflutungszonen ausweisen. Bis zu 500 000 Hektar sind im Gespräch – ein Gebiet doppelt so groß wie das Saarland.

Mit Anzeigen, Fernseh- und Radiospots stimmte der Staat die Bevölkerung auf den Wandel ein: „Wir geben dem Wasser den Platz, den es braucht, bevor es sich ihn selber nimmt. Das ist keine einfache Botschaft für ein Volk, das seit Jahrhunderten stolz auf seine Landgewinnung ist. Aber es ist der einzige Weg, um auch in Zukunft bestehen zu können.”

Klingt vernünftig – doch woher den Platz nehmen? Bereits heute fehlt in den Niederlanden Wohnraum, und bis 2035 wird die Bevölkerung Berechnungen zufolge um noch einmal fast eine Million Menschen wachsen. Um alle Bürger unterzubringen, müssen in den nächsten zehn Jahren eine halbe Million Wohnungen neu geschaffen werden, ergab eine Studie. Können amphibische oder direkt auf das Wasser gebaute Häuser die Lösung sein?

„Im Prinzip schwimmt alles, auch Beton. Man muss nur genug Wasser verdrängen”, sagt Michiel Lauman, Bauleiter der amphibischen Häuser. Er hat die Tour durch das Verkaufsmodell schon oft geführt. Der untere Teil der Häuser besteht aus einer wasserdichten Betonwanne, der obere aus Holz. Die gesamte Konstruktion ruht auf einer Reihe von Pfählen. Kommt Hochwasser, beginnt das Gebäude durch seine Schwimmblase aus Beton zu treiben wie ein Boot. Geht die Flut zurück, sinkt es wieder auf seine Pfähle nieder.

Weil die Häuser damit sicher vor Überschwemmungen sind, durften sie direkt ans Ufer gebaut werden. Der Blick aus dem Fenster ist idyllisch: Nur der Fluss ist zu sehen und eine Insel im Hintergrund, auf der im Sommer die Vögel brüten. „Die meisten Bewohner lieben das Wasser”, sagt Lauman. Viele haben ein Boot, das sie direkt neben der Terrasse vertäuen können.

Für einen Kaufpreis von durchschnittlich 320 000 Euro bieten die Häuser zwei bis drei Schlafzimmer und eine auf zwei Ebenen verteilte Wohnfläche mit Küche. Ein Teil der Betonwanne fungiert als Keller. Weil die Ingenieure den Schwerpunkt des Hauses möglichst tief legen wollten, wurde die Decke in dem garagengroßen Raum niedrig gehalten. Lauman, der klassisch holländisches Gardemaß von fast 1,90 Meter besitzt, muss den Kopf einziehen, um ihn zu betreten. „Besucher aus Japan hatten hier gar keine Probleme”, sagt er. „Sie fragten: Warum nehmen Sie das nicht als extra Schlafzimmer?”

Wohnen auf dem Wasser ist nicht neu. In Thailand gibt es Dörfer, die auf Stelzen stehen, Seattle besitzt Viertel aus Hausbooten – und auch Holland kann auf eine lange Hausboot-Tradition zurückblicken. Bislang sind es jedoch zumeist die Armen und die Exzentrischen, die in unmittelbarer Nachbarschaft mit den Wellen leben – Menschen, die sich ein Haus auf dem Land nicht leisten können oder dies aus Überzeugung ablehnen. Bei der neuen niederländischen Wasserarchitektur dagegen geht es um etwas ganz anderes: Die Rettung des Status Quo durch den Umzug aufs Nass.

Im vergangenen Sommer baute Dura Vermeer das erste schwimmende Gewächshaus der Welt, einen 600 Quadratmeter großen Glasbau auf einer Plattform aus Styropor und Stahlbeton. Auch an einer schwimmfähigen Straße arbeiten die Ingenieure der Firma bereits. Und sie suchen nach einem Ort, an dem sie ein ganzes treibendes Dorf installieren können.

Eine andere niederländische Firma stellte einen Entwurf für ein schwimmendes, 120 Meter hohes Hotel vor. „Holland wird zum experimentellen Spielplatz für das Leben mit dem Wasser”, sagt Koen Olthuis von Waterstudio.NL, einem jungen Betrieb, der sich ganz auf das Aquabauen spezialisiert hat. Im Herbst wies die niederländische Regierung 15 überflutungsgefährdete Testgebiete aus, auf denen nur noch „wasserfest” gebaut werden darf.

Der Ansatz trifft auch im Ausland auf Interesse. Schon heute leben zwei Drittel aller Erdenbürger in Delta- und Küstenregionen. Auch von ihnen werden viele künftig vom Meeresspiegel-Anstieg betroffen sein. Darauf kreativ zu reagieren, werden sich aber wohl nur reiche Regionen leisten können. Jüngst entwarf Olthuis mit Auftrag aus Dubai einen Plan, um 404 Häuser mit Pool und Gärten auf treibenden Plattformen mit einer Gesamtgröße von 35 Hektar zu bauen. „Die Plattformen haben die Form von arabischen Wörtern, die man aus dem Flugzeug lesen kann”, sagt Olthuis.

Statistisch wird Kees Wests Haus etwa alle fünf Jahre schwimmen. Dass es dazu in der Lage ist, beweisen 14 Nachbarvillen im gleichen Design, die entlang eines Stegs permanent im Fluss verankert wurden. Wenn es soweit ist, wird West bestimmt dabei sein – er würde dafür sogar extra von seiner zweiten Heimat in Spanien aus herfliegen, kündigt er an. ■

Ute Eberle lebt im holländischen Leiden – mehrere Meter unter Null in einem stark von Hochwasser und Flut gefährdeten Gebiet.

Ute Eberle

COMMUNITY Internet

Homepage der Herstellerfirma der amphibischen Häuser, Dura Vermeer:

www.dura-vermeer.nl

Informationen und Grafiken zur Schwimmhaus-Siedlung in Maasbommel:

www.goudenkust.nl/verkoop/index.html

Allgemeinen Infos zu den Niederlanden:

www.niederlandenet.de

Ohne Titel

• In weiten Teilen Hollands haben die Menschen immer wieder mit Hochwasser zu kämpfen.

• Statt sich länger gegen die Fluten zu stemmen, wollen sie sich künftig mit ihnen arrangieren.

• Sie lassen Gebäude und Straßen im Ernstfall einfach auf dem Wasser treiben.

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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