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Künstliche Intelligenz für digitale Zwillinge

Technik|Digitales

Künstliche Intelligenz für digitale Zwillinge
Eine Pandemie, ein militärischer Konflikt oder auch nur ein schwer zu findender Programmierfehler – das kann schnell zu massiven Störungen führen. Mit digitalen Zwillingen, Künstlicher Intelligenz und der neuen Technik des Process Mining wollen Unternehmen gegensteuern.

von ULRICH EBERL

Warum heißen Programmierfehler „Bugs“, sind also nach Käfern und anderen krabbelnden Insekten benannt? Wer sich mit Computern beschäftigt, kennt die Geschichte: Vor genau 75 Jahren, im September 1947, flog eine Motte in eines der vielen Relais des Mark-II-Großrechners an der Harvard University in den USA und löste im Computer Fehlfunktionen und Abstürze aus.

Kleine Ursache, große Wirkung – das gilt nicht nur in der Computerwelt: In Schweden, Japan und Israel haben schon Quallen die Meerwasserfilter von Kraftwerken verstopft und deren Abschaltung ausgelöst. Unvergessen ist auch die „Ever Given“: das Containerschiff, das sich im März 2021 im Suezkanal querstellte und ihn sechs Tage lang blockierte. Hunderte von Schiffen mussten bis zu zwei Wochen im Stau warten oder wählten gleich die deutlich längere Route um das Kap der Guten Hoffnung an der Südspitze Afrikas.

Doch verglichen mit der Situation, in der sich die Welt zurzeit befindet, waren das nur kleine Bugs. Infolge des Ukrainekriegs steht die Energieversorgung Europas auf der Kippe. Dabei geht es nicht nur um Strom und Wärme – viele Unternehmen brauchen Erdgas, um etwa Kunststoffe, Arzneimittel, Dünger, Stahl, Glas oder Aluminium herzustellen. Bei erheblichen Lieferengpässen würden Dominoeffekte fast alle Industriezweige treffen, von der Automobilindustrie über die Landwirtschaft bis hin zur Produktion von Silizium-Wafern, die wesentlich für die Fertigung von Computerchips sind.

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Chaos bei den Lieferketten

Damit nicht genug: China will nach wie vor die harmlosere, aber ansteckendere Omikron-Variante des Coronavirus durch harte Lockdowns in Shanghai, Peking und anderen Megacitys in den Griff bekommen. Die Folgen: Lieferketten brechen zusammen, Containerschiffe und Flugzeuge können nicht mehr nach Plan be- und entladen werden. In den Industrienationen fehlen Mikrochips genauso wie Magnesium, Kobalt und Metalle der Seltenen Erden. Die Preise explodieren, und die Gespenster von Inflation und Rezession rasen um den Globus.

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Wenn die einst gut geölten Rädchen der Handelsbeziehungen knirschen und nicht mehr ineinandergreifen, droht ein industrieller Flächenbrand, vielleicht sogar eine Weltwirtschaftskrise. Was lässt sich in so einer Situation tun? Wie können Firmen schnell und flexibel auf Störungen reagieren?

Fachleute setzen große Hoffnungen auf zwei neue Entwicklungen der Digitalisierung und deren Unterstützung durch Künstliche Intelligenz (KI): den „resilienten digitalen Zwilling“ sowie das „Process Mining“ – die automatische Analyse und Optimierung von Prozessen anhand ihrer vielfältigen Datenspuren.

Modelle, Schatten und Zwillinge

Als einer der Vordenker und Pioniere dieser Techniken gilt der niederländische Informatiker Wil van der Aalst, der seit 2018 als Alexander-von-Humboldt-Professor an der RWTH Aachen arbeitet. Er unterscheidet zwischen digitalen Modellen, digitalem Schatten und digitalen Zwillingen. Modelle sind die einfachste Art der digitalen Abbildung: Da werden beispielsweise Flügel von Windturbinen anhand ihrer Konstruktionszeichnungen manuell im Computer nachgebildet und ihre Bewegungen simuliert.

Ein digitaler Schatten geht einen Schritt weiter: Er passt sich an, wenn sich das reale Objekt verändert. So können Sensoren an Windrotoren melden, wie sich diese bei Hitze oder Sturm verhalten. Im Rechner wird dann automatisch der digitale Schatten entsprechend modifiziert.

Beim digitalen Zwilling läuft die Kommunikation sogar in beide Richtungen, also auch von der virtuellen in die reale Welt. Ändert der Computer etwa die Anstellwinkel der Rotorblätter, so geschieht das auch umgehend bei der Turbine im realen Windpark.

Besonders wichtig sind digitale Zwillinge bei komplexen Abläufen: Zeigt sich bei der Simulation am Rechner, wie man bestimmte Prozesse optimieren kann, so lassen sich Software-Updates auf die realen Maschinen aufspielen und die Abläufe neu konfigurieren. Sehr hilfreich hierfür sind KI-Verfahren des maschinellen Lernens: Anhand vieler realer Trainingsdaten lernt der Computeralgorithmus, welche Veränderungen was bewirken – und somit auch, wie sich Verbesserungen erreichen lassen.

Die Erfolge sprechen für sich: Bei Gasturbinen lernen KI-Systeme bereits, wie sich je nach Betriebszustand der Ausstoß von Stickoxiden deutlich senken lässt. Sie regeln danach eigenständig die Einstellparameter der Maschinen. In Windparks, wo mitunter Rotoren je nach Windrichtung anderen Rotoren buchstäblich im Weg stehen, kann dank KI der gesamte Stromertrag gesteigert werden. Und selbstständig fahrende Transporter üben heute erst einmal in virtuellen Welten, wie sie mit verschiedenen Verkehrssituationen zurechtkommen, bevor sie auf realen Straßen unterwegs sind. Gefährliche Ereignisse lassen sich sogar nur im virtuellen Raum trainieren – etwa, wenn ein Ball auf die Fahrbahn rollt, eine Autotür plötzlich aufgestoßen wird oder ein Verkehrsteilnehmer einem anderen die Vorfahrt nimmt.

Störungen als Training

„Die Königsklasse der digitalen Abbildungen“, sagt van der Aalst, „ist schließlich der resiliente digitale Zwilling.“ Darunter versteht der Informatiker einen digitalen Doppelgänger, der sich auch durch unerwartete Störungen nicht aus der Ruhe bringen lässt und gute Vorschläge macht, wie man mit der neuen Situation umgehen kann. Das Problem dabei: Motten im Großcomputer, Quallen im Kraftwerk, querstehende Schiffe, Viren in China oder Bomben auf Odessa tauchen in keinen Trainingsdaten auf. Letztlich gilt immer: Was der KI-Algorithmus nicht gelernt hat, dazu kann er auch keine sinnvolle Einschätzung, Prognose oder Empfehlung abgeben.

Für den resilienten digitalen Zwilling fordert van der Aalst daher eine hybride Intelligenz: eine Kombination aus maschineller und menschlicher Intelligenz. Denn den Maschinen, sagt der Experte der RWTH Aachen, „fehlt es an Kreativität, Anpassungsfähigkeit, Einfühlungsvermögen und einfach an gesundem Menschenverstand“. Auf der anderen Seite seien sie aber extrem schnell, effizient und zuverlässig beim Auswerten großer Datenmengen. Und Daten braucht man in jedem Fall, auch bei unerwarteten Störungen. Um dann bestmöglich handeln zu können, sollten nicht Maschinen, sondern Menschen entscheiden – wobei diese allerdings durchaus auf die KI setzen und die Computer mit ihren mächtigen Analysefähigkeiten als Assistenten nutzen sollten.

©bdw-Grafik/Karl Marx; Quelle: Wil van der Aalst, Celonis

Eine optimierte Kooperation von Mensch und Maschine hatten auch Roland Busch und Jensen Huang, die Chefs von Siemens und des Grafikprozessor-Spezialisten Nvidia, im Blick, als sie Anfang Juli 2022 das „industrielle Metaversum“ als gemeinsames Projekt vorstellten. Dabei geht es darum, Abläufe – etwa in Fabrikhallen – so wirklichkeitsgetreu nachzubilden, dass sich Menschen in die virtuellen Räume begeben und dort agieren können, als wären sie in der echten Fabrik. Siemens liefert in dieser Kooperation die präzisen Daten der Maschinen und Abläufe (also den digitalen Zwilling der Fabrik), während Nvidia die fotorealistische Darstellung aller Objekte beisteuert – dank Künstlicher Intelligenz in Echtzeit und optisch so perfekt wie in einem Hollywood-Film.

Die Herausforderungen für eine derart detailgetreue Simulation seien enorm, sagt Huang, denn in einer großen Fabrik gebe es Hunderte Millionen von Einzelteilen, von denen sich viele auch noch bewegen: „Alle geometrischen, mechanischen und elektronischen Details müssen stimmen, während zugleich die Software der Roboter, ja die Steuerung der ganzen Fabrik, live arbeitet.“ Vielfältige Sensoren des sogenannten Internets der Dinge sollen dafür künftig die reale Fabrik in Echtzeit mit ihrem digitalen Zwilling verbinden.

Im Metaversum an Ideen tüfteln

In diesem industriellen Metaversum können Designer, Planer und Produktionsingenieure von unterschiedlichen Standorten aus zusammenarbeiten, trainieren und – ebenfalls mithilfe von Künstlicher Intelligenz – neue Ideen ausprobieren, als wären sie vor Ort. Wenn es irgendwo klemmt, kann die Reparatur auch in der virtuellen Welt erfolgen und überprüft werden. Erst danach werden Änderungen an die echten Maschinen übertragen und die Störungen behoben. An einer realen Fabrik haben Siemens und Nvidia dieses Konzept bereits getestet, und BMW hat angekündigt, das industrielle Metaversum in einer neuen Produktionsanlage für Elektrofahrzeuge umzusetzen.

Dass selbstlernende KI-Systeme aber auch ohne fotorealistische digitale Zwillinge die Leistung etwa von Fertigungsmaschinen kontinuierlich verbessern können, berichtete Felix Georg Müller im Mai 2022 auf dem KI-Kongress „Smarte Maschinen im Einsatz“. Müller ist einer der drei Gründer und Geschäftsführer der plus10 GmbH, einer Ausgründung des Stuttgarter Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnik und Automatisierung IPA. Das IPA richtete zusammen mit der Konradin Mediengruppe – dem Verlagshaus, in dem bild der wissenschaft erscheint – den Kongress aus. „plus10“ ist nicht nur der Name, sondern auch das Motto der 2019 gegründeten Firma: Mehrfach hat das Unternehmen belegt, dass sich mithilfe von maschinellem Lernen die Produktivität komplexer Fertigungsanlagen um zehn Prozent oder mehr steigern lässt.

So kann eine KI-Software mit dem Namen Darwin Detailabläufe von Dutzenden von Maschinen miteinander vergleichen, vollautomatisch und in Echtzeit. „Die Software meldet dann zum Beispiel: ‚Fräsmaschine B ist beim Werkzeugwechsel 2,2 Sekunden langsamer als Maschine E – und bei der Feinbearbeitung des Werkstücks 13,8 Sekunden hinter dem Wert, den Maschine G erreicht‘“, erklärt Müller. Darwin kann außerdem genau benennen, welche Parameter in der Programmierung der Maschinen den jeweiligen Prozessschritt bestimmen und für eine Optimierung geändert werden sollten.

Maschinen im Vergleichstest

Mehr noch: Da jede Maschine irgendeinen Ablauf besser beherrscht als eine andere, kann Darwin anhand der Vergleiche einen virtuellen Idealprozess definieren, der die besten Teilprozesse aller Maschinen in sich vereint – sozusagen eine virtuelle Idealmaschine.

KI-Systeme à la Darwin wühlen sich durch die industriellen Abläufe und fördern dabei wie im Bergbau wertvolle Nuggets zutage – das erklärt, warum Fachleute wie Wil van der Aalst das Konzept dahinter als „Process Mining“ bezeichnen. Zum Weltmarktführer auf diesem Feld ist ein deutsches Unternehmen aufgestiegen, das erst 2011 von drei Studenten der TU München gegründet wurde: Celonis.

Vom Start-up zum Schwergewicht

Noch vor wenigen Jahren ein kleines Start-up-Unternehmen, hat Celonis heute einen Marktwert im zweistelligen Milliarden-Euro-Bereich und Tausende von Firmen als Kunden, darunter Großkonzerne wie ABB, Bosch, Coca-Cola, die Deutsche Telekom, IBM, Lufthansa und Siemens. Im September 2021 konnte Celonis, dessen drei Gründer Ende 2019 mit dem Deutschen Zukunftspreis ausgezeichnet wurden, zudem den Aachener Vordenker Wil van der Aalst als „Chief Scientist“ gewinnen.

Auf dem KI-Kongress „Smarte Maschinen im Einsatz“ berichtete Rick Schneider, Senior Data Scientist bei Celonis, warum Unternehmen aller Art auf Process Mining setzen: „In großen Firmen gibt es oft Tausende von Systembrüchen, unterschiedlichste Programme und nicht zusammenpassende Abläufe – hier setzen wir an.“ Denn mithilfe von Künstlicher Intelligenz kann die Celonis-Software komplexe Prozesse anhand ihrer Datenspuren durchleuchten, sie bis in die feinsten Verästelungen analysieren und die Punkte finden, an denen es hakt.

Mit diesen Informationen lässt sich dann termingerechter fertigen, Rechnungen werden schneller bearbeitet, Nacharbeiten, unnötige Lagerbestände, Emissionen und Abfallmengen werden reduziert. Flugzeuge fliegen pünktlicher, im Supermarkt werden die Regale rechtzeitig nachbestückt, und in der Notaufnahme von Kliniken verkürzen sich die Wartezeiten. Immer öfter findet das Execution Management System von Celonis die Fehler nicht nur, sondern hilft auch, sie zu beheben. Manchmal gelingt das sogar automatisch, „weil die Software Störungen in Echtzeit feststellt und dann entsprechende Arbeitsabläufe anstößt“, wie Schneider erklärt.

„Besonders wichtig ist, dass das auch über Prozessgrenzen und die Silos der IT-Systeme hinweg gelingt“, sagt der Datenexperte. „Den digitalen Schatten ganzer Lieferketten können wir damit schon erstellen.“ Mit automatisierten Feedback-Schleifen und Simulationen – den sogenannten Was-wäre-wenn-Szenarien – sei Celonis auch auf dem besten Weg dahin, digitale Zwillinge komplexer Prozesslandschaften zu erschaffen.

So konnte mit der Celonis-Software ein Materialhersteller frühzeitig Verspätungen bei seinen Zulieferern erkennen und daraufhin automatisch Aufträge seiner eigenen Kunden nach Prioritäten ordnen. Und einer Bank gelang es dank digitaler Prozess-Simulationen, Szenarien für ihre Kreditvergabe durchzuspielen und unnötige Kosten zu vermeiden.

Der Faktor Mensch

Allerdings: Der digitale Zwilling eines gesamten Unternehmens ist nach wie vor eine Vision. „Das hat vor allem zwei Gründe“, erklärt Wil van der Aalst. „Zum einen lassen sich die Grenzen einer Organisation nicht klar abstecken, und zum anderen ist menschliches Verhalten mitunter irrational und ändert sich im Lauf der Zeit.“ Denn eine Firma besteht ja nicht nur aus ihren Fabrikhallen und Produktionsprozessen, sondern vor allem auch aus ihren Mitarbeitern, Lieferanten und Kunden – und deren vielfältigen sozialen Wechselwirkungen.

Menschen haben persönliche Vorlieben, und ihr Verhalten wandelt sich, wenn sich Teamstrukturen, Vorschriften oder politische Rahmenbedingungen ändern. Ein drastisches Beispiel ist der Zusammenbruch nicht nur der Lieferbeziehungen, sondern auch vieler langjähriger Kooperationen und persönlicher Kontakte im Lauf der Sanktionen gegen Russland – ein digitaler Zwilling, der so etwas berücksichtigen könnte, ob mit oder ohne Künstliche Intelligenz, ist noch in weiter Ferne. Für sinnvolle Unternehmensentscheidungen ist daher die Klugheit von Menschen nach wie vor unverzichtbar.


ULRICH EBERL hat mehrere Bücher über Künstliche Intelligenz geschrieben und den Kongress „Smarte Maschinen im Einsatz“ mitorganisiert und moderiert.

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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