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Sandkastenspiele der Physiker

Technik|Digitales

Sandkastenspiele der Physiker
Die merkwürdigen Eigenschaften der Granulate sorgen für Verwirrung. Ob Paranüsse, Waschpulver oder Sand – in unserem Alltag spielen körnige Stoffe eine wichtige Rolle. Doch Granulate verhalten sich nicht immer so, wie Physiker und Ingenieure es gerne hätten.

Granulare Medien – so der Fachausdruck für alle Arten von Körnern, Pulvern und Pudern – finden sich in jedem Haushalt und werden in allen Industriezweigen verarbeitet: Kunststoffe und Keramiken werden aus Granulaten hergestellt, Baustoffe wie Sand, Kies oder Schotter sind von vornherein krümelig. Kosmetika, Putzmittel, Arzneimittel – alles besteht zunächst aus Millimeter bis Mikrometer großen Partikeln. Und nicht zuletzt war vieles, was wir essen, einmal körnig. In der Physik sind Granulate zur Zeit in Mode, obwohl – oder gerade weil – sie sich nicht in herkömmliche Schubladen pressen lassen: Granulate fließen wie Flüssigkeiten, doch mit den Gleichungen der Hydrodynamik ist ihnen nicht beizukommen. Sie haben ähnliche Eigenschaften wie Festkörper – auf Sand kann man normalerweise laufen, auf Wasser nicht -, trotzdem verhält sich ein Sandsack, der auf eine Glasplatte fällt, anders als eine Metallkugel.

Es gibt sogar Zwitterzustände: Sand und andere Granulate können „fluidisiert“, also flüssig werden – zum Beispiel bei Erdbeben. Der geschüttelte Sandboden verhält sich dann wie eine Flüssigkeit, die Häuser oder ganze Städte verschluckt, wie 1989 beim Loma-Prieta-Erdbeben in San Francisco. Ähnlich funktioniert auch der gefürchtete Treibsand: Er erhält durch aufquellendes Wasser unter der Sandschicht die nötige Energie, um sich zu verflüssigen. Granulate können auch gasförmig sein – zum Beispiel in kosmischen Staubwolken -, aber dann haben sie ebenfalls ganz andere Eigenschaften als klassische Gase.

Was sind sie nun: feste, flüssige oder gasförmige Stoffe? Nichts von alledem, sagt Prof. Ingo Rehberg von der Universität Magdeburg: „Überspitzt könnte man von einem vierten Aggregatzustand sprechen.“ Was für die merkwürdigen Eigenschaften der Granulate verantwortlich ist, da sind sich die Physiker nicht einig.

Auch ein Sandhaufen am Strand hat Seltsames zu bieten: So ist der Druck auf den Boden nicht in der Mitte des Haufens am größten, wie man auf den ersten Blick annehmen könnte, sondern etwas seitlich davon. Auch dafür sind die Bögen verantwortlich, die den Druck zur Seite ableiten. Bedingung ist, daß der Haufen durch kornweise Berieselung an einer einzigen Stelle entsteht. Schüttet man den Sand etwa aus einer Schubkarre auf den Boden, zeigt sich das Druckminimum nicht.

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Eine übergreifende Theorie für die Physik der Granulate ist so schwierig zu finden, weil physikalische Eigenschaften wie die Dichte oder die Kräfte zwischen den Körnern in einem Granulat von Ort zu Ort variieren und sich deshalb nicht mitteln lassen. Der Ansatz, die einzelnen Körner einfach wie Atome in einem Molekül oder einem Kristall zu betrachten, wo wenige Eigenschaften das Verhalten von Billionen Teilchen beschreiben, funktioniert bei Granulaten nicht, weil sie makroskopische Gebilde sind, die keine thermische Bewegung haben wie Gasmoleküle oder auch Atome in Festkörpern. Erwärmt man sie, bewegen sie sich nicht vom Fleck. Atome in einem Festkörper dagegen schwingen immer heftiger, je wärmer es wird – bis sie aus dem Kristallverbund ausbrechen und der Festkörper schmilzt. Wenn zwei Sandkörner zusammenstoßen, verlieren sie Energie – ein Grund, warum Sand oft als Dämmaterial benutzt wird. Gasmoleküle dagegen stoßen elastisch.

Die Physiker hoffen, daß ihnen das komplexe Verhalten der Granulate auch das Verständnis von Supraleitern erleichtern wird. Diese haben keine geordnete Kristallstruktur und befinden sich ähnlich wie Granulate weit vom Gleichgewichtszustand entfernt: Führt man einem Supraleiter über eine bestimmte Schwelle hinaus Energie zu, tritt man quasi eine Lawine los, so bricht die Supraleitung zusammen.

Ute Kehse
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