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Wir Schweden haben den Zug verpasst

Technik|Digitales

Wir Schweden haben den Zug verpasst
Der schwedische Energieexperte Clas-Otto Wene ist überzeugt: Weil Deutschland schon früh die erneuerbaren Energien gefördert hat, ist es jetzt ganz vorne im Rennen.

Herr Prof. Wene, über den Begriff Energiewende wird viel diskutiert. Versteht man denn in Deutschland und Schweden eigentlich dasselbe darunter?

Das kommt darauf an, wen man fragt. Bei der kernkraftfreundlichsten Partei in Schweden, der liberalen „ Folkpartiet“, würde man sagen: Es ist der Ausstieg aus der Nutzung von fossilen Brennstoffen. Wenn Sie dagegen zu den Grünen und Linken gehen, würden die sagen: Energiewende ist der Ausstieg aus fossilen Energieträgern sowie Kernkraft plus ein Ausbau der erneuerbaren Energiequellen plus Energieeinsparungen. Das ist ein ähnlich großes Spektrum wie in Deutschland.

Wie erfolgreich sind die beiden Länder bei der Umsetzung der Energiewende?

Hier ist Deutschland wesentlich besser aufgestellt als Schweden.

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Warum? Schweden hat doch heute schon einen hohen Anteil an erneuerbaren Energiequellen und vergleichsweise geringe CO2-Emissionen.

Das stimmt. Und die schwedischen Politiker tun gerne so, als wären sie besonders weitsichtig gewesen – und als sei das der Grund für den relativ geringen CO2-Ausstoß. Aber die heutige Situation ist historisch bedingt. Das lässt sich zurückverfolgen bis ins Jahr 1767. Damals gab es eine Holzkrise bei den schwedischen Eisenhütten. Eisen war das wichtigste Exportgut, doch die Wälder um die Hüttenwerke herum waren abgeholzt. Also gab der schwedische Reichsrat Forschung in Auftrag, um neue Technologien mit geringerem Holzverbrauch zu entwickeln. Das Ergebnis waren Öfen mit wesentlich besserem Wirkungsgrad, die weitaus weniger Holz be-nötigten. Die Krise konnte bewältigt werden, weil man auf nationaler Ebene gedacht hat. Weiter ging es Anfang des 20. Jahrhunderts, als der Grundstein für die heute so verbreitete Nutzung der Wasserkraft gelegt wurde.

Was genau hat man da unternommen?

Die Industrie, vor allem im Textilbereich, brauchte mehr Energie. Auch die Bevölkerung verlangte danach, denn immer mehr Menschen nutzten Elektrizität. Daher hat man den nationalen Wasserfall-Vorstand gegründet – heute die Vattenfall AG – und die Nutzung der Wasserkraft großflächig ausgebaut. Ohne diese frühe Initiative könnten wir heute wohl nicht 45 Prozent des schwedischen Stroms durch Wasserkraft produzieren. Der letzte Schritt geschah dann in den 1950er- und 1960er-Jahren.

Da kam die Atomenergie hinzu.

Genau. Darin war Schweden ungewöhnlich schnell, und für die damalige Zeit war das die richtige Strategie. Das Problem ist, dass man sich weitgehend auf die Atomenergie beschränkt hat, statt mal nach rechts und links zu schauen. Denn was Solar- und Windkrafttechnologie angeht, haben wir in Schweden den Zug verpasst. Deutschland ist da viel erfolgreicher.

Was ist in Deutschland besser gelaufen als in Schweden?

Der entscheidende Punkt sind die erfolgreichen Markteinführungsprogramme. Schweden hat viel Geld in die Forschung investiert – in die Arbeit an Universitäten und hochkarätigen Instituten. Doch das bringt eine Technologie nicht auf den Markt. Was dazu nötig ist, ist zum Beispiel das, was in Deutschland ab den 1990er-Jahren gemacht wurde: eine gesetzliche Priorisierung der erneuerbaren Energien. Das geschah zu einer Zeit, als die in Windkraftanlagen installierte Leistung gerade mal 250 Megawatt betrug. Diese gesetzliche Regelung hat Deutschland den entscheidenden Vorteil gebracht.

Die Bevorzugung der erneuerbaren Energiequellen war und ist in Deutschland umstritten. Manche sprechen von übertriebenen Subventionen.

Da ist ein Perspektivenwechsel nötig. Fachökonomen würden es als Subventionen bezeichnen, aber ich sehe es als Investitionen ins Lernen, die am Ende die Kosten senken. Es gibt so etwas wie Lernkurven, die sich leicht am Beispiel von Solarpaneelen erklären lassen: Noch 1976 kosteten Module für Solarstrom 66 Dollar pro Watt, 2003 waren es 3 Dollar, heute liegen die Kosten unter einem Dollar. Die Zahlen zeigen das entscheidende Prinzip: Die Kosten für eine Technologie sinken, wenn die Erfahrungen damit steigen. Und solche Erfahrungen macht die Industrie durch Produkte am Markt – deshalb ist sie auf ihn angewiesen. Markteinführungsprogramme wie das deutsche Stromeinspeisungsgesetz von 1990 zusammen mit dem „250 Megawatt Wind“-Programm und das zehn Jahre später in Kraft getretene Erneuerbare-Energien-Gesetz brachten somit den entscheidenden Lernzyklus in Gang.

Was muss Energiepolitik demnach leisten?

Die Aufgaben von Energiepolitik sind die technische Verbesserung und die Kostenreduzierung für neue Technologien. Die Politik muss zu dem Punkt kommen, an dem sie eine Technologie der Industrie überlassen und sagen kann: Bitteschön, jetzt sind die Kosten dafür die gleichen wie für die alten Technologien. Jetzt können die Unternehmen entscheiden, was sie tun wollen.

Welchen volkswirtschaftlichen Wert sehen Sie in der Subvention neuer Energiequellen?

Lernkurven funktionieren lange, doch weil sie logarithmisch verlaufen – also allmählich flacher werden –, greifen sie bei älteren Technologien nicht mehr so gut wie bei jungen. Es verändert sich einfach nicht mehr so viel. Bei neuen Technologien kann es dagegen in kurzer Zeit enorme Entwicklungen geben. Das wird deutlich, wenn man sich die aktuelle Situation in Deutschland anschaut. In relativ kurzer Zeit sind die erneuerbaren Energien so stark ausgebaut worden, dass die Kapazitäten heute gut 38 Gigawatt im Solarbereich und mehr als 36 Gigawatt im Windbereich be-tragen. Da gibt es eine Industrie und da gibt es Kompetenz. Selbst wenn die Produktion teilweise nach China verlagert wird, bleibt doch die Kompetenz im eigenen Land. Das sehe ich in Schweden nicht.

Wie ist die Lage in Schweden?

Auch in Schweden wurden viele Forschungsgelder in erneuerbare Energien wie die Windkraft gesteckt. Aber anders als in Deutschland oder in Dänemark haben vor allem die Kraftwerksbetreiber weiter auf Kernkraft gesetzt. Es ist interessant zu sehen, bei welchen Technologien wir heute in Schweden an der Spitze sind. Das ist zum einen bei der Nutzung der Biomasse der Fall, aber auch auf dem Gebiet der Atommüllentsorgung. Letzteres hat ganz klar mit dem Willen zu tun, die Kernkraft zu behalten. Auf Dauer bringt uns das aber nichts, denn ein Markt für neue Kernkrafttechnologien ist nicht zu erkennen. Eigentlich hat Schweden im Hinblick auf erneuerbare Energien sogar viel bessere Voraussetzungen als Deutschland, denn hier leben weniger Menschen auf größerem Raum. Sowohl Solar- als auch Windenergie brauchen viel Platz. Und wir haben es verpasst, uns rechtzeitig Kompetenzen auf diesen Technologiefeldern anzueignen.

Halten Sie die Kernkraft grundsätzlich für eine schlechte Idee?

Nein. Es gibt neue technische Ansätze, die durchaus interessant sind, beispielsweise die Verwendung von kleineren Modulen in Reaktoren. Doch um diese weiterzuentwickeln, bräuchte es einen einheimischen Markt für Neuinvestitionen in die Nutzung der Kernenergie. Sie wäre in Ordnung, wenn sie ihre eigenen Kosten tragen würde, doch das tut sie bisher nicht. Die staatlichen Subventionen, beispielsweise bei Risiko- und Versicherungskosten, sind gigantisch gewesen.

Wenn man den Begriff „Energiepolitik“ bei Wikipedia nachliest, ist dort von einem „Zieldreieck“ die Rede. Energiepolitik müsse drei Dinge leisten: Versorgungssicherheit, Wettbewerbsfähigkeit und Umweltverträglichkeit. Würden Sie das so unterschreiben?

Rhetorisch gesehen: ja. Grundsätzlich ist es aber so: Energiepolitik ist immer der Industriepolitik untergeordnet. Das war im 18. Jahrhundert bei den Eisenhütten so und auch bei der Wasserkraft am Anfang des 20. Jahrhunderts. 1979 gab es in Schweden einen Volksentscheid, demzufolge bis 2010 alle Atomreaktoren abgeschaltet werden sollten. Doch am Ende wurden nur zwei Reaktoren vom Netz genommen. Warum? Weil die Industrie die Energie brauchte. Meine These ist: Industriepolitik hat immer die höchste Priorität. Versorgungssicherheit und Wettbewerbsfähigkeit sind stets die treibenden Elemente.

Was ist mit dem dritten Aspekt, der Umwelt?

Die setzt nur den Rahmen. So wie man zum Beispiel die Wasserkraft nicht unendlich ausbaut, weil man Flächen fluten müsste, auf denen heute Rentierherden weiden. Trotzdem ist die Umwelt bisher keine treibende Kraft. Wenn der gesteckte Rahmen zu eng wird und Versorgungssicherheit und Wettbewerbsfähigkeit nicht mehr gewährleistet sind, fangen plötzlich die großen Diskussionen auf oberster politischer Ebene an. Das nehme ich immer wieder wahr.

Man hat aber doch den Eindruck, das Umweltbewusstsein sei in den letzten Jahren und Jahrzehnten gewachsen. Welche Rolle spielt denn die Klimafrage für die Energiepolitik?

Das Klima wird bei energiepolitischen Entscheidungen häufig mitbedacht. Dabei entwickelt es sich immer mehr zu einer treibenden Kraft – doch erreicht hat es diesen Status noch nicht. Man könnte sagen: Das Klima wird dann zum entscheidenden Faktor, wenn Kraftfahrzeuge keine fossilen Brennstoffe mehr verbrauchen. In den Städten wird das Problem der Luftverschmutzung größer, und Kraftfahrzeuge werden deshalb mehr und mehr aus den Stadtzentren verdrängt. Die Automobilindustrie hat inzwischen erkannt: Wenn sie weiter bestehen möchte, muss sie kleinere und sauberere Autos produzieren.

Ist ein kompletter Ausstieg aus der Kernenergie möglich?

Ja, das ist möglich. Aber es wird meiner Ansicht nach in den nächsten zehn Jahren nicht ohne CCS, also „Carbon Capture and Storage“, funktionieren – das Abtrennen von Kohlenstoff aus den Abgasen von fossilen Kraftwerken und seine Einlagerung unter der Erde. Wenn weiterhin verlässliche und preisgünstige Energie bereitgestellt werden soll, kommt man nicht ohne Braun- und Steinkohle-Kraftwerke aus. Soll zusätzlich der CO2-Ausstoß im angestrebten Maß reduziert werden, dann geht das nur, wenn bei diesen Kraftwerken CCS eingesetzt wird. Das Problem ist, dass es dafür bisher keine praxiserprobte Technologie gibt. Ohne sie wird es aber nicht funktionieren, aus der Atomenergie auszusteigen und gleichzeitig die CO2-Emissionen zu reduzieren. •

Das Gespräch führte Henrike Wiemker

Clas-Otto Wene

hat Kernphysik studiert und dann unter anderem am GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung in Darmstadt gearbeitet. Später konzentrierte sich Wene (*1940) auf den Bereich Energie und war über 20 Jahre lang Professor für Energiesystemtechnik an der Technischen Hochschule Chalmers in Göteborg, Schweden. Von 1997 bis 2003 arbeitete er für die Internationale Energie-Agentur in Paris.

Ein doppelter Blick nach Schweden

Das Interview mit dem schwedischen Energieexperten Clas-Otto Wene entstand in Kooperation mit unserer Partnerzeitschrift „ natur“, dem Magazin für Natur, Umwelt und besseres Leben. Auch dort erscheint das Interview in der Juni-Ausgabe.

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Die Zeiten des großen Kohleabbaus sind in vielen Teilen Deutschlands vorbei, trotzdem sorgen Stein- und Braunkohle noch für knapp die Hälfte unserer Stromproduktion. Immerhin legen die erneuerbaren Energien seit fünf bis zehn Jahren deutlich zu. In Schweden sind die beiden großen Pfeiler der Stromproduktion dagegen nach wie vor Wasser- und Atomkraftwerke.

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