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Wünsche und Werte im Ausverkauf

Technik|Digitales

Wünsche und Werte im Ausverkauf
Heute, 23. April 2015, um 19.30 Uhr sprechen Bestsellerautor Marc Elsberg und Internetikone Sascha Lobo über Datenschutz. Hier geht’s zum Livestream!

Was bisher geschah: Entmachtung

Ende Mai 2014 erschien mein Roman ZERO, in dem ich das Experiment eines Unternehmens ­namens Freemee beschreibe, das mittels Ratgeberprogrammen unbemerkt die Wertvorstellungen und Handlungen von Millionen seiner Nutzer steuert.

Eine Woche später veröffentlichte Facebook ein bereits 2012 durchgeführtes Experiment, in dem es heimlich die Emotionen Hunderttausender Nutzer manipuliert hatte. Die eine Hälfte bekam in der persönlichen ­Timeline vorwiegend negative Postings von Freunden gezeigt, die andere vorwiegend positive. Daraufhin posteten die „Negativempfänger“ selbst eher negative Nachrichten und die ­“Positivempfänger“ eher positive. Andere Experimente zeigen, dass Google und Facebook sogar Wahlen entscheiden können. Oder tun sie es bereits? Wir wissen es nicht. Das ist die höchste Stufe der Macht.

Die primitivste Form der Machtausübung ist Gewalt. Eleganter und in Demokratien üblich sind Regeln und Strukturen, denen die Menschen folgen. Foucault nennt dies Gouvernementalität. Auf der höchsten Stufe der Macht steuert jemand Gefühle, Wünsche und die daraus folgenden Handlungen anderer in seinem Sinn – und zwar ohne dass die Ohnmächtigen es bemerken. Frei nach dem Motto: „Lass sie glauben, es war ihre Idee.“ So wie Facebook die Emotionen seiner User.

Keine Agenten mehr

Wie wurden solche Unternehmen binnen weniger Jahre so mächtig? So wie Machthaber aller Zeiten: Sie vernichteten die ­Privatsphäre. Dazu müssen sie uns ­heute nicht mehr durch Nachbarn oder Agenten be­spitzeln. Stattdessen benutzen sie – und, wenn wir schon dabei sind, auch Geheimdienste und Behörden – Tele­fone, Computer, Leitungen, Kredit-, Bank-, Kunden-, Rabatt- und Vielfliegerkarten, GPS,  Überwachungskameras, „Wearables“ und immer mehr Sensoren in ­unserer Umwelt.

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Unsere Welt wird komplett „sensorisiert“. Das klingt nicht ­zufällig wie „zensuriert“. Datensammel-, -analyse- und -handelsprogramme bewerten und verkaufen uns sekun­den­schnell an den Meistbietenden. ­Zivilisierte Gesellschaften ächten Leibeigenschaft, Sklaverei, Organ- und Menschenhandel als schwere ­Verletzung der Menschenwürde. Warum lassen wir die nichtphysische Form zu? Der Trick: Diese Teile unserer Menschenwürde, nämlich unsere Gedanken und Wünsche, werden „Daten“ genannt und so zu einem Produkt gemacht. Nennen wir es Menschendatenhandel.

Die meisten Menschen erkennen ihre Ohnmacht. ­Resigniert bemerken sie: „Ich kann ja nichts dagegen machen.“ Dabei haben wir ein System geschaffen, das dem Einzelnen Macht gibt: die Demokratie. Nicht zufällig fällt die rechtliche Etablierung der Privatsphäre zeitlich zusammen mit dieser historischen Machtverschiebung von einer kleinen ­Elite zu breiten Teilen der Bevölkerung.

Was weiß Google?

Jetzt hat sich die Macht erneut verschoben, wieder zu einer kleinen Gruppe hin. Schon 2010 erklärte Googles Executive Chairman Eric Schmidt: „Wir wissen, wo du bist. Wir wissen, wo du warst. Wir wissen mehr oder weniger, woran du denkst.“ Was weiß Google 2015?

Wissen ist Macht. Deshalb dürfen sie alles über uns wissen, aber wir nichts über sie. Auf den dafür nötigen kommunikativen Trick fallen sogar Richter herein, etwa in einem BGH-Urteil zugunsten der Schufa Anfang 2014: Algorithmen und Bewertungsmodelle haben sie zu untrennbaren Teilen des Unternehmens, quasi seiner Seele, ernannt. Und die ist Geschäftsgeheimnis. Dasselbe gilt in etwas anderer Form für die Geheimdienste, über deren Instrumente wir auch nichts erfahren sollen. Quod licet Iovi, non licet bovi.

Der Staat besitzt die Regel- und Strukturmacht, doch Unternehmen die noch mächtigere Gedankenhoheit – und dank vermeintlich gratis zur Verfügung gestellter Suchmaschinen, Sozialer Netzwerke, Navigationssysteme, Ratgeberprogramme und zahlreicher anderer Alltagserleichterer auch die Mittel zur Massenmanipulation. Apples Smartwatch tippt Ihr Handgelenk schon an wie ein mahnender Finger. Das Gewaltmonopol des Staates ist das Gewaltmonopol ­jener Unternehmen, die Wahlen in diesem Staat entscheiden. Es wird Zeit, sich die Macht zurückzuholen!

W as jetzt geschieht: Schlussverkauf

Genau das soll uns ein neues Geschäftsmodell ermöglichen. Als ich es 2012 zu Beginn meiner Arbeit an ZERO entwarf, dräute es am realen Horizont, seit 2014 tauchen monatlich neue Anbieter auf wie Datafairplay, ­Datacoup, Handshake, Meeco oder Luth Research. Statt den Gewinn der Daten anderen zu überlassen, können wir unsere Daten nun selbst sammeln und verwerten. Manche Anbieter geben ihren Kunden dafür bereits 100 Dollar – pro Monat! Doch merken Sie etwas? De facto öffnet das Modell lediglich den bislang nur Unternehmen zur Verfügung stehenden Datenhandelsmarkt für uns alle. Jetzt können wir uns selbst verkaufen. Ein Faust’scher Handel – „Lass sie glauben, es war ihre Idee“ in Vollendung! Wie eine Figur aus „ZERO“ bemerkt: „Datensouveränität ist auch nur ein Business-Modell“.

Das zeigt, wovon wir eigentlich sprechen: nicht von der Macht neuer Technologien und ihrer Schöpfer. Wir sprechen von der Macht einer Ideologie – der altbekannten freien Marktwirtschaft. So frei, dass man wieder mit Menschen handeln darf. Kapitalismus at its best, Marcuses „eindimensionaler Mensch“, Version 4.0.

Das zweite Erfolgsgeheimnis der neuen Kaiser: Definiere und beherrsche die Währung einer Gesellschaft. Unsere Wünsche, Träume, Wertvorstellungen und Taten sind eine berechenbare Kurve wie der Kurs einer Aktie. Handelbar sind Mut, Selbstbewusstsein, Gesundheit oder Familiensinn, und als nächstes sind natürlich Derivate darauf denkbar. Endlich besitzen Werte einen Wert!

Daten als Währung

In ZERO entwerfe ich als konsequente Weiterentwicklung bestehender geschlossener Systeme eine öffentliche Börse für den Handel dieser Werte. Das Produkt sind wir, die Währung sind unsere „Daten“. Je bessere Daten wir liefern, desto wertvoller ist das Produkt „Ich“. Welch ein Antrieb, sich laufend zu verbessern! „It’s selfie time!“, rufen die Kinder, zücken das Smart­phone und trainieren ihr Kameragesicht. Immer populärer werden digitale Ratgeber zur Selbstverbesserung, die uns gesünder, leistungsfähiger und erfolgreicher machen sollen. Ja und, was soll daran schlecht sein, dass es uns besser geht?

Das hängt davon ab, was „besser“ bedeutet. Woher wissen Sie, dass die Ratschläge wirklich in Ihrem Sinn sind? Facebook hat zugegeben, seine Nutzer zu Laborratten gemacht zu haben. Wessen Suchergebnisse zeigt uns Google wirklich? Wie errechnen die Schufa und ­andere Credit Rater unsere Kreditwürdigkeit – und entscheiden damit darüber, ob wir etwas kaufen dürfen oder nicht? Dynamische Preisgestaltung“ arbeitet längst mit individuellen Preisen für das gleiche Produkt – auch vor dem (digitalen) Regal sind wir längst nicht mehr alle gleich (viel wert). Warum empfiehlt Ihnen das Diätprogramm gewisse Nahrungsmittel wirklich? Führt uns das Navi auf dem schnellsten Weg ans Ziel – oder doch an ­einer Tankstelle der Kette vorbei, mit der der Navibetreiber einen Deal hat?

Übrigens: Der Verzicht auf Internet, Handy, Kundenkarten und Ratgebersoftware hilft nicht. Ich nenne das den Mineralwasser-Effekt: Zwischen lauter durchsichtigen Wassertropfen sind Luftbläschen umso besser sichtbar – und handelbar. Nur ihr Wert ist geringer.

Technologien nützen dennoch

Wir müssen uns Gedanken über die Technologien machen. Denn die können überaus nützlich sein, sogar Leben retten. Wesentlich intensiver nachdenken jedoch müssen wir über die Gesellschaftsform, in der wir leben und in der wir sie einsetzen wollen. Doch wie auch immer diese aussehen wird, die Technologien verändern sie, verschieben etwa Entscheidungs- und Verantwortungsstrukturen. Im selbstfahrenden ­Auto etwa muss bei einem Unfall nicht mehr der Lenker, sondern die Steuerungssoftware entscheiden, ob der Wagen in den Motorradfahrer links oder das Kind am Straßenrand rechts knallt. Muss sie natürlich nicht, sondern vorab der Programmierer. Und vor ihn setzt der Gesetzgeber – hoffentlich – den rechtlichen Rahmen, ­also letztlich wir Wähler in einer funktionierenden Demokratie, wenn wir noch in einer solchen leben.

Was machen dynamische Preisgestaltung und von Gesundheits-Apps überwachte Versicherungstarife mit einer Gesellschaft, die sich bislang an – einigermaßen – gleichem Recht für alle orientierte? Was werden wir mit Personen tun, die mit 80-prozentiger Wahrscheinlichkeit in den nächsten Stunden ein Verbrechen begehen? (In ­diversen Ländern ermordet man auf Basis solcher Programme per Drohne bereits Terrorverdächtige – oder Unschuldige.) Das sind nur einige Beispiele von vielen.

W as geschehen wird: Restmensch?

Moderne Programme lernen und entscheiden. Wir erleben den Advent der künstlichen Intelligenz. Auch in hochqualifizierten Berufen treten Menschen mittlerweile nicht mehr gegen Menschen an, sondern gegen Maschinen. In Schach und Jeopardy besiegten sie uns schon vor Jahren, Finanz- und Rechnungswesen, Militär, Medizin, Juristerei, Journalismus und andere übernehmen sie gerade. (Aus zahlendichten Datensätzen schreiben Programme in amerikanischen Nachrichtenagenturen bereits Wirtschafts- und Sportberichte.)

In der Industrialisierung haben wir das Handeln automatisiert und es weitestgehend den Maschinen übergeben. Mit der KI automatisieren wir nun das Denken und Entscheiden. Dabei müssen diese KI gar kein eigenes Bewusstsein entwickeln wie in Science-Fiction-Geschichten. Die schiere Menge und Komplexität der Systeme wird sie für uns unbeherrschbar machen. Immerhin ist die Machtfrage dann geklärt. Geben wir uns keinen Illusionen hin: „Kreativität, Empathie und andere urmenschliche Eigenschaften werden die Maschinen nie lernen“, glauben wir heute. So wie unsere Vorfahren meinten, Weben, Schustern, Schriftsetzen und derlei komplexe Tätigkeiten würden Maschinen nie beherrschen.

Wir reden von einer kopernikanischen Wende, die das Menschenbild zutiefst umgestalten wird – und damit unser Gesellschaftsmodell. Erwerbsarbeit? Demokratie? Selbstbestimmung? Bildung? Welche Rolle spielt der Mensch noch in diesem System? Wer definiert sie? Wir? Die Maschinen? Der derzeit beste Schachspieler ist ein Team aus KI und mehreren Menschen … 

 

Zum Autor:

Marc Elsberg  ist das Pseudonym des österreichischen Schriftstellers Marcus Rafelsberger (*1967). Nach der Matura studierte er Industriedesign und arbeitete als Strategieberater und Kreativdirektor in der Werbebranche. Parallel schrieb er die Kolumne „Keine Anzeige von Marcus Rafelsberger“ für die Wiener Tageszeitung „Der Standard“. 2000 erschien sein erster satirischer Roman „Saubermann“, dem drei Krimis folgten. Der Durchbruch gelang Elsberg 2012 mit dem Thriller „Blackout“, in dem es um die Folgen eines flächendeckenden Zusammenbruchs der Stromversorgung geht. Das Buch stand auf der Bestsellerliste des Spiegel auf Platz 2, und die bild der wissenschaft- Jury wählte es zum Wissensbuch des ­Jahres 2012 in der ­Kategorie Unterhaltung. Im neuen Thriller von Marc Elsberg ­“ZERO – Sie wissen, was du tust“ geht es um Big Data und Datenschutz. Er erreichte Platz 3 der Spiegel-Bestsellerliste und wurde von der bdw-Jury als Wissensbuch des Jahres 2014 ausgezeichnet. Die Kritik lobte beide Bücher für die sorgfältige Recherche und den rasanten Plot.  

© wissenschaft.de – Marc Elsberg
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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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♦ Elek|tro|nen|ak|zep|tor  〈m. 23〉 chem. Verbindung, die zur Aufnahme von Elektronen neigt

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