Schon länger vermuten Wissenschaftler, dass die Vorfahren der heutigen Säugetiere nachaktiv waren. Hinweise darauf liefern unter anderem die Form der Augen und die Sinneszellen in der Netzhaut: Bei den meisten Säugetieren dominieren die für das Sehen bei schwachem Licht besonders gut geeigneten Stäbchen in der Retina – selbst wenn die Tiere heute tagaktiv sind. Auch der bei Säugetieren besonders gut ausgeprägte Riechsinn könnte das Erbe einer einst nachaktiven Phase in der Evolution sein, so die Theorie. „Die sogenannte nachtaktive Flaschenhals-Hypothese besagt, dass die Säugetiere im Mesozoikum auf ein Leben im Dunkel beschränkt waren, weil sie durch die antagonistische Interaktion mit den ökologisch dominanten Dinosauriern dazu gezwungen wurden“, erklären Roi Maor von der Universität Tel Aviv und seine Kollegen. Einfacher ausgedrückt: Wollten die Urzeit-Säuger nicht gefressen werden, mussten sie tagsüber tunlichst unsichtbar bleiben. Ob dieses Szenario allerdings stimmt, blieb bisher offen. Denn an Fossilien lässt sich nicht immer eindeutig ablesen, ob ein Tier einst tag- oder nachtaktiv war.
Um mehr Klarheit zu schaffen, haben Maor und seine Kollegen nun einen anderen Ansatz gewählt: Sie verglichen die Lebensweise und die Augenmerkmale bei 2415 heute lebenden Säugetierarten. Durch Vergleiche mit den Verwandtschaftsbeziehungen rekonstruierten sie daraus mithilfe von zwei verschiedenen Verfahren die wahrscheinliche Lebensweise der jeweiligen Vorfahren und Stammeslinien der Säugetiere. Der so entstehende Stammbaum verriet ihnen auch, wann die jeweiligen Säugergruppen tagaktiv wurden.
Plötzlicher Wandel vor 65 Millionen Jahren
Das Ergebnis betätigt, dass der gemeinsame Vorfahre aller Säugetiere höchstwahrscheinlich nachtaktiv war – und dass auch seine Nachfahren während des Mesozoikums weitgehend auf ein Leben im Dunkeln beschränkt blieben. „Fossilien belegen, dass die Säugetiere bereits im Mittleren Jura vor 174 bis 164 Millionen Jahren eine beträchtliche Vielfalt entwickelt hatten“, berichten die Forscher. „Sie besetzten schon damals nahezu alle Varianten ökologischer Nischen – außer der zeitlichen.“ Erst mit dem Untergang der Dinosaurier am Ende der Kreidezeit vor rund 66 Millionen Jahren änderte sich dies: „Wir waren sehr überrascht, eine so enge Korrelation zwischen dem Verschwinden der Dinosaurier und dem Beginn der tagaktiven Lebensweise bei den Säugetieren zu finden“, sagt Maor. „Aber auch bei Überprüfung durch mehrere verschiedenen Analysemethoden bestätigte sich dieses Ergebnis eindeutig.“
Die Analysen enthüllten, dass die Vorfahren der heutigen Affen, Menschenaffen und Menschen zu den ersten Säugetieren gehörten, die nach Ende der Kreidezeit tagaktiv wurden. Sie könnten schon vor mehr als 52 Millionen Jahren ihren Lebensrhythmus an die neuen Gegebenheiten angepasst haben. Das könnte erklären, warum diese Primatengruppe eine besonders gute Fähigkeit zum Farbensehen entwickelte und warum der Augapfel der Affen und Menschen im Verhältnis zu seiner Breite für Säugetiere ungewöhnlich lang ist – auch dies könnte eine Folge des frühen Wechsels zur Tagaktivität gewesen sein, so die Forscher. „Wir können zwar mit unserer Methode nicht beweisen, dass das Aussterben der Dinosaurier den Wechsel zur tagaktiven Lebensweise der Säuger verursachte, aber wir sehen eine sehr deutliche Korrelation in unseren Ergebnissen“, sagt Koautorin Kate Jones vom University College London.