Doch diesem Klischee haben Diana Deutsch und eine Reihe anderer Wissenschaftler in den vergangenen Jahren einige Kratzer verpasst. Immer mehr Forschungsarbeiten weisen darauf hin, dass die Fähigkeit, sich Tonhöhen exakt zu merken, eigentlich gar nicht so ungewöhnlich ist im Gegenteil. Möglicherweise kann es fast jedes Kleinkind: Die Psychologin Jenny Saffran von der Universität in Madison (USA) spielte acht Monate alten Babys lange Folgen glockenähnlicher Töne vor und konnte anhand eines Tests zeigen, dass sie in der Lage waren, die absolute Höhe von Tönen im Gedächtnis zu behalten.
Ein Tonhöhengedächtnis könnte ein wichtige Rolle in den ersten Lebensmonaten spielen, wenn im Gehirn die Grundlagen für das Erkennen von Worten und das Sprechen gelegt werden, vermutet Deutsch. Mit der Entwicklung des Sprechvermögens geht das absolute Gehör bei den meisten Menschen offenbar zum größten Teil wieder verloren.
Ein Grund dafür könnte sein, dass diese Fähigkeit auch irritierend sein kann. Denn mit dem absoluten Gehör alleine kann ein Hörer beispielsweise nicht erkennen, dass „Stille Nacht“ in zwei verschiedenen Tonlagen gesungen dasselbe Lied ist. Oder er würde den Sinn des Wortes „Tisch“ nur erkennen, wenn es in einer bestimmten Tonhöhe gesprochen wird. In beiden Fällen ist das bei nahezu allen Menschen gut ausgeprägte relative Gehör vonnöten, das nur die Relation der Töne zueinander und nicht ihre absolute Höhe berücksichtigt.
Diana Deutsch vermutet nun, dass bei den Menschen mit absoluten Gehör im musikalischen Sinn die Phase des absoluten Hörens bis in ein Alter andauerte, in dem sie bereits Musikunterricht genommen hatten. Nur dann konnten sie auch lernen, die gespeicherten Tonhöhen mit Notenwerten zu benennen.
Bestätigt wird diese Annahme durch eine Studie von Wissenschaftlern der Universität San Francisco, die 600 Musiker nach ihrem Werdegang befragten. Vierzig Prozent aller Musiker, die bereits mit vier Jahren mit der musikalischen Ausbildung begonnen hatten, hörten absolut. Hatten sie dagegen erst mit neun Jahren mit dem Musizieren begonnen, waren es nur noch drei Prozent. Diese Zahlen verdeutlichen zudem, dass es so gut wie unmöglich ist, sich als Erwachsener noch ein absolutes Gehör anzutrainieren.
Auf einen engen Zusammenhang zwischen Sprachentwicklung und dem Gedächtnis für Töne deuten auch Versuche hin, die Deutsch und ihre Kollegen mit Menschen gemacht haben, die so genannte Tonsprachen sprechen. Das sind Sprachen, bei denen der Tonhöhenverlauf oder die Tonhöhe selbst, in der ein Wort ausgesprochen wird, über dessen Bedeutung entscheidet. In dem chinesischen Standarddialekt Mandarin beispielsweise kann das Wort „ma“ je nach Tonhöhe vier verschiedene Bedeutungen haben: „Mutter“, „Pferd“, „Hanf“ und „schimpfen“. Die Psychologen machten Sprachaufnahmen von 15 Mandarin sprechenden Versuchspersonen und stellten fest, dass diese ihren Wortschatz ebenfalls in absoluten Tonhöhen gespeichert hatten. Über Tage hinweg hielten sie sehr genau an jeder einzelnen Tonlage fest.
Auch sie hörten absolut, auch wenn sie die Tonhöhen nicht benennen konnten wie ein Musiker. Da diese Fähigkeit für den Gebrauch ihrer Sprache nützlich war, ist sie ihnen über ihre Kindheitsjahre hinaus erhalten geblieben. Deutsch und ihre Kollegen nehmen daher an, dass Musiker mit einer solchen Tonsprache als Muttersprache überdurchschnittlich häufig ein absolutes Gehör besitzen. Eine Studie mit Musikstudenten aus China soll diese Vermutung nun bestätigen.