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Das Gehirn weiß wenig von der Wirklichkeit

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Das Gehirn weiß wenig von der Wirklichkeit
Jeder irrt, der zu wissen glaubt, was ein anderer denkt. Wenn ein Mensch einen anderen fragt: „In welcher Welt lebst du eigentlich?“, ist er den Einsichten der Wahrnehmungsforscher sehr nahe. Für die ist klar: Jeder irrt, der zu wissen glaubt, was ein anderer denkt und fühlt.

bdw-Redakteur Jürgen Nakott sprach mit Prof. Gerhard Roth, Doktor der Philosophie und der Biologie, ist Direktor des Instituts für Hirnforschung in Bremen und Gründungsrektor des Hanse-Wissenschaftskollegs der Länder Bremen und Niedersachsen. In seiner jahrelangen Beschäftigung mit der Frage, wie das Gehirn die Welt wahrnimmt, ist er zu zwei wichtigen Schlußfolgerungen gekommen. Erstens macht sich jedes Gehirn seine eigene Welt. Die individuelle Wirklichkeit und die vom Bewußtsein unabhängige Realität sind zwei verschiedene Dinge. Daraus folgt zweitens: Naturwissenschaftliche Aussagen können nie den Anspruch erheben, objektiv wahr zu sein.

bild der wissenschaft: Ein bekanntes Nachschlagewerk definiert das Phänomen der Wahrnehmung sinngemäß so: „Das menschliche Gehirn erstellt aus den Signalen, die ihm über die Sinnesorgane zugehen, ein anschauliches Bild seiner Umwelt und seines Körpers.“ Wahrnehmung wäre also eine Spiegelung der Umwelt. Ist das so?

Roth: Nur zu einem ganz kleinen Teil. Die Hauptaufgabe des Gehirns ist, ein Verhalten zu erzeugen, mit dem ich als Mensch in meiner spezifischen Umwelt – der natürlichen und der sozialen – überleben kann. Wenn diese Umwelt sehr komplex ist – und das ist sie -, dann überfordert eine komplette Abbildung unser Aufnahmevermögen völlig. Unser Gehirn tastet vielmehr die Umwelt blitzschnell ab und prüft, was für uns in der jeweiligen Situation wichtig und was unwichtig ist. Es konzentriert sich dann auf die wichtigen Dinge und fragt in seinem Gedächtnis nach: Welche Erfahrung habe ich mit diesen Dingen, was bedeuten diese Signale für mich. Auf dieser Basis plant es ein Verhalten, das für mein Überleben hilfreich ist. Das bedeutet aber: Mein Gehirn bildet nicht die Umwelt detailgetreu ab, sondern nur das Allerwichtigste davon, und alles andere erinnert, interpretiert und plant es aus sich heraus, auf der Grundlage seiner individuellen Erfahrungen. Im Klartext: Wahrnehmung ist nicht Abbildung, sondern Interaktion. Die Welt, in der wir bewußt leben, ist nicht die Wiedergabe unserer realenUmwelt, sondern vor allem ein Produkt unseres Gedächtnisses und damit unserer Erfahrung. Die aktuellen Sinnesreize sind nur der Anlaß für unser Gehirn, bewährte Konstrukte aus dem Gedächtnis abzurufen.

bild der wissenschaft: Das, was wir wahrnehmen, ist also nicht nur eine Konstruktion unseres Gehirns, wie extreme Denker sagen? Es gibt also eine Umwelt?

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Roth: Also, philosophisch gesprochen können wir natürlich überhaupt keine Gewißheit haben über die Existenz einer Welt außerhalb unseres Kopfes. Wir haben nur die Gewißheit über unsere eigenen Sinnesdaten. Ob diese Sinneseindrücke aus einer äußeren Welt stammen, kann ich nicht unmittelbar überprüfen. Ich kann sie ja nicht anfassen, sondern was mein Gehirn verarbeitet sind immer nur Sinneseindrücke, von druckempfindlichen Tastsensoren in meinen Fingerspitzen etwa. Die Frage kann also nicht sein, ob ich nachweisen kann, daß es eine unabhängige Welt gibt, sondern nur, ob es plausibel ist, von ihrer Existenz auszugehen. Meine Antwort: Es ist sehr wahrscheinlich, daß es eine äußere Welt gibt.

bild der wissenschaft: Und in welcher Beziehung steht diese reale Welt mit der in meinem Kopf?

Roth: Gibt es überhaupt eine Beziehung? Diese Frage beantworten drei Denkrichtungen ganz verschieden: der Solipsismus, der radikale und der gemäßigte Konstruktivismus. Der Solipsist sagt: Es gibt keine äußere Welt, alles, was ich wahrnehme, ist eine Konstruktion meines Gehirns. Den Solipsisten kann man streng logisch nicht widerlegen, da er alles – jeden Sinneseindruck und jede Erfahrung – zu einer Illusion erklärt. Man kann das vielleicht vergleichen mit hirngeschädigten Patienten, die keine Erinnerung speichern können, und die sich deshalb jeden Tag eine neue Vergangenheit ausdenken, von deren Realität sie jeweils vollkommen überzeugt sind. Solche Menschen gibt es, sie leben wirklich in einer – täglich neuen – Illusion.
Im Gegensatz zum Solipsisten sagt der radikale Konstruktivist: Es mag eine bewußtseinsunabhängige Umwelt geben, wir können aber ihre Existenz nie beweisen, und wir können auch nichts über sie aussagen. Ich gehöre nicht zu dieser Fraktion, aber diese Überlegung muß man ernst nehmen. Ich will das an einem Beispiel erklären: In der Welt außerhalb unseres Kopfes gibt es keine Farben, das ist klar, aber es gibt Licht unterschiedlicher Wellenlängen. Stopp, sagt der radikale Konstruktivist: Der Begriff Wellenlänge ist eine Konstruktion der Physik, und kein Physiker würde sagen, daß Wellenlängen objektiv existieren. Es gibt vielmehr Phänomene, die Physiker auf der Grundlage einer bestimmten einheitlichen Sprache mit dem Begriff Wellenlänge bezeichnen. Wir nehmen also nur bestimmte Phänomene wahr, die wir mit Begriffen belegen, denen wir eine Farbe zuschreiben, oder die wir rund oder eckig nennen. Wieviel diese Begriffe taugen, um die reale Umwelt zu beschreiben, weiß kein Mensch.

bild der wissenschaft: Aber belegt nicht die Tatsache, daß wir uns als Menschen, egal welcher Herkunft, einigen können, teilweise ja sogar mit anderen Tierarten, wann etwas rund ist, daß es dieses Runde tatsächlich gibt?

Roth: Ja und nein. Auch der radikale Konstruktivist wird nicht bezweifeln, daß es Dinge gibt, die wir rund nennen, und über die wir uns auch mit Hunden und Papageien einigen können, sie für rund zu halten. Was diese verschiedenen Gehirne aber wirklich wahrnehmen, und was das mit der Umwelt außerhalb eines Bewußtseins zu tun hat, können wir grundsätzlich nicht sagen. Sobald ich Dinge beschreibe, sagt der radikale Konstruktivist, tue ich das in menschlichen Begriffen. Diese Form einer Beschreibung von Dingen muß ich strikt unterscheiden von der Art ihrer Existenz außerhalb des menschlichen Bewußtseins.

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