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DAS GEN, DAS SPRACHE SCHAFFT

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DAS GEN, DAS SPRACHE SCHAFFT
Das Gen FOXP2 ist notwendig, damit sich Sprache entwickeln kann. Aber was bewirkt es im Gehirn?

Die Sensation war perfekt. „Sprach-Gen gefunden“, verkündete der Pressedienst der Zeitschrift „nature“ im Oktober 2001. Tatsächlich war den fünf Autoren des beworbenen Artikels ein Coup gelungen: Sie hatten das Gen identifiziert, das bei mehreren Angehörigen einer britischen Familie erbliche Sprachstörungen auslöst – Schwierigkeiten beim Aussprechen mehrsilbiger Wörter, bei der Satzbildung und bei weiteren verbalen Tests. Das Gen trägt den Namen FOXP2. Die Genetiker aus Oxford konnten sogar auf den Punkt genau angeben, an welcher Stelle das Gen, das auf dem Chromosom 7 liegt, mutiert ist – und was die biochemischen Folgen sind: Im resultierenden Protein wird eine Aminosäure durch eine andere ersetzt. Doch wie soll eine winzige stoffliche Veränderung das Sprachvermögen so durcheinanderbringen? Dieses Rätsel lösen zu wollen, gleicht dem Versuch, ein kompliziertes mehrdimensionales Puzzle zusammenzusetzen – kein Wunder, dass die beteiligten Wissenschaftler auch heute, im Jahr 2008, damit noch nicht fertig sind.

Was Molekular- und Entwicklungsbiologen über das Gen FOXP2 herausfanden, machte die Sache erst einmal nicht einfacher, sondern komplizierter: FOXP2 ist ein sogenannter Transkriptionsfaktor, ein Schalter, der andere Gene an- oder ausschalten kann. Das heißt, es ist ein mächtiges und wichtiges Gen. Darauf deutet auch die Tatsache hin, dass es bei Mäusen und Menschen nahezu identisch ist. Das heißt aber auch, dass es an vielen Stellen im Körper seine Kraft entfalten kann: Tatsächlich wird das FOXP2-Protein während der Embryonalentwicklung nicht nur im heranwachsenden Gehirn gebildet, sondern auch in Herz, Lunge und Darm. Dennoch ist bei den Mitgliedern der betroffenen Familie, die ein mutiertes FOXP2-Gen aufweisen, an den inneren Organen kein Fehler zu finden. Sie haben auch keine Probleme beim Gehen oder Hantieren, wie bei einer allgemeinen Bewegungsstörung zu erwarten wäre. Sie können normal hören, kauen und schlucken. „ Das Kern-Defizit der Betroffenen ist eine Bewegungsstörung der Mund- und Gesichtsmuskulatur, die sich beim Sprechen besonders auswirkt“, präzisiert Faraneh Vargha-Khadem, eine Londoner Neurologin, die die Familie seit mehr als zwei Jahrzehnten studiert. Beim Sprechen müssen sehr schnelle Mundbewegungen perfekt ausgewählt, koordiniert und aneinandergereiht werden. Wer das nicht kann, lernt niemals richtig sprechen – und hat möglicherweise Probleme bei sprachlichen Aufgaben aller Art. Laut Vargha-Khadem ist allerdings noch nicht geklärt, „ob die begleitenden Grammatik- und Semantik-Störungen und weitere kognitive Probleme der Betroffenen sekundäre Folgen der Sprechstörung sind oder weitere Kerndefizite.“

EIN NEUER KANAL IM HIRN

Um das Puzzle an dieser Stelle zu schließen, hilft es vermutlich, an einer anderen Ecke mit dem Zusammenfügen der Steine zu beginnen. Von Seiten der Hirnforschung tut das Hermann Ackermann von der Universität Tübingen. Der Neurologe studiert das Denkorgan von Versuchspersonen beim Sprechen mit Hilfe von bildgebenden Verfahren wie der funktionellen Kernspin-Tomographie und Ganzkopf-Magnet-Encephalographie. Er hat dabei ein Modell der menschlichen Lautkommunikation vor Augen, das sich wesentlich unterscheidet von Vorstellungen, die noch vor ein paar Jahrzehnten gelehrt wurden.

Damals glaubte man, zwei Zentren in der Großhirnrinde, das Broca- und das Wernicke-Zentrum, seien für das Sprechen einerseits und das Sprachverstehen andererseits zuständig – und ausreichend. „Heute gehen wir von einem Zweikanal-Modell aus“, erläutert Ackermann. „Den ersten Kanal teilen wir mit den Affen und anderen Säugetieren. Er vermittelt unwillkürliche, emotionsgesteuerte akustische Signale. Beim Menschen sind das vor allem das Lachen und das Weinen.“ Das Nervennetzwerk, das diesen Kanal ansteuert, hat seinen Sitz an der Innenseite des Stirnlappens im Gehirn. Ackermann: „Bei Affen ist das der einzige Kanal der Vokalisation.“ Anders beim Menschen: Er hat seinen Lach- und Weinkanal mit einem zweiten Kanal überbaut, dem Sprachkanal. Er nutzt wie der Lach- und Weinkanal Kehlkopf, Zunge, Mundraum und Lippen zur Lautproduktion, aber er tut das auf viel virtuosere Art und Weise. Weite Teile des Großhirns sind daran beteiligt, die Laute, Silben, Wörter und Sätze zu entwerfen, die zum Mund herauskommen sollen. Aber damit sie richtig herauskommen, braucht das Großhirn Hilfe von zwei tiefer gelegenen Hirnregionen: den Basalganglien und dem Kleinhirn.

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Spezialist für die Rolle der Basalganglien ist der amerikanische Linguist Philip Lieberman. In seinem Buch „Toward an Evolutionary Biology of Language“ (Auf dem Weg zu einer Evolutionsbiologie der Sprache) beschreibt er im Detail die unterhalb der Großhirnrinde angesiedelten Nervenknoten und die komplizierten Nervenschaltkreise mit ihren erregenden und hemmenden Synapsen, die zwischen Großhirn und Basalganglien hin- und hervermitteln. Ihre Funktion ist, Bewegungsabläufe in die richtige Reihenfolge zu bringen. Lieberman nennt die Basalganglien „Sequenziermaschinen“ und betont, dass sie keineswegs nur für Sprache zuständig sind. Im Gegenteil: Egal ob eine Maus ihr Fell putzt, eine Versuchsperson Spielkarten sortiert oder ein Schriftsteller aus komplexen Gedanken komplizierte Sätze formt – immer sind die Basalganglien im Spiel. Selbst Vögel benutzen sie beim Singen.

ES KOMMT AUF MILLISEKUNDEN AN

Und das Kleinhirn? Seine Rolle ist längst nicht so gut erforscht, aber Ackermann hat Hinweise, dass es bei Sprachprozessen eine Rolle spielt, bei denen es auf Millisekunden ankommt – etwa bei der Unterscheidung von Konsonanten wie p und b oder t und d oder bei der Modifikation von Silbenlängen. „Das Kleinhirn ist ausschließlich beim Menschen an der Lautproduktion beteiligt“, betont er. Das Gen FOXP2, so vermuten die Forscher derzeit, ist sowohl bei der Installation der Basalganglien-Netzwerke als auch der Kleinhirn-Verbindung im Spiel. Deshalb hat Ackermann seine Kollegin Vargha-Khadem nach Tübingen eingeladen. Im Herbst 2008 will sie kommen – und dann wird das große Puzzlespiel um FOXP2 in eine neue Runde gehen. ■

von Judith Rauch

GROSSHIRN AN KLEINHIRN: BITTE SPRECHEN!

In der Evolution vom Menschenaffen zum Menschen hat das Großhirn immer mehr Kontrolle über die Zentren der Lautproduktion übernommen: Blaue Pfeile symbolisieren eine stärkere Vernetzung des planenden Stirnhirns mit den Basalganglien. Der rote Doppelpfeil zeigt die nur beim Menschen vorkommende lange Verbindung zum Kleinhirn, die nach neueren Forschungen für das exakte Timing von Lauten und Silben wichtig ist. Beim Menschen sind auch die Großhirn-Regionen untereinander stärker vernetzt (grüne Pfeile). So werden komplexe Leistungen wie Sprache und Sprachverstehen erst möglich.

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