Moralisches und unmoralisches Verhalten balancieren sich gegenseitig aus: Wer sich in einem bestimmten Bereich besonders selbstlos verhält, neigt dazu, in einem anderen äußerst egoistisch zu handeln. Umgekehrt verursacht rücksichtsloses Verhalten nicht selten den Drang, etwas Gutes zu tun, haben US-Psychologen in einer kleinen Studie nachgewiesen. Ihre Schlussfolgerung: Ähnlich wie man sich nach einem ausgedehnten Lauftraining gerne einmal ein besonders üppiges Abendessen gönnt, gleicht man instinktiv Abweichungen vom idealen Level des moralischen Selbstwertgefühls aus ? sei es nun nach oben oder nach unten.
Die Forscher führten mit insgesamt 46 Freiwilligen drei Tests durch. Grundprinzip aller Studienteile war die Verwendung positiver oder negativer Begriffe wie freundlich, fürsorglich, liebevoll und großzügig beziehungsweise selbstsüchtig, unehrlich und grausam, mit denen sich die Teilnehmer beschreiben sollten. Ziel dieser Manipulation war es, das Selbstwertgefühl der Probanden zu verändern ? eine positive Beschreibung sollte dabei einen ähnlich aufbauenden Effekt haben wie beispielsweise eine gute Tat, während ein negativer Text die Selbstachtung schmälern sollte, ähnlich wie es bewusst rücksichtsloses Verhalten tut. Zusätzlich hatten die Teilnehmer die Möglichkeit, bis zu zehn Dollar an eine wohltätige Organisation zu spenden.
Wer sich selbst positiv dargestellt hatte, spendete im Schnitt nur ein Fünftel von dem, was ein Testteilnehmer mit einer negativen Selbstbeschreibung abgab, zeigte die Auswertung. Ein ähnliches Ergebnis erhielten die Forscher auch, wenn es nicht um Spendengelder, sondern um einen potenziellen Einsatz für den Umweltschutz ging. Offenbar gibt es also für jeden Menschen einen Sollwert an Tugend, so die Schlussfolgerung der Forscher. Handelt er oberhalb oder unterhalb eines bestimmten Levels an Altruismus, drängt er instinktiv zurück in die entgegengesetzte Richtung, um wieder dieses für ihn ideale Niveau zu erreichen. So säubert eine gute Tat nach einem moralischen Fehlgriff das moralische Selbstbild wieder, während eine überhöhte Selbstachtung etwa nach einer großen Spende zum Beispiel durch ein gewisses Maß an Rücksichtslosigkeit wieder zurechtgestutzt wird.
Warum das so ist, können die Forscher bisher nicht sagen. Möglicherweise haben die Menschen jedoch nicht genügend Anreiz, sich in weiteren moralischen Tätigkeiten zu engagieren, wenn sie sich bereits zu moralisch fühlen, spekulieren sie. Vielleicht stecke das auch hinter dem bereits häufig beobachteten Phänomen, dass manche Menschen gerade dem Laster frönen, das sie öffentlich vehement anprangern.
Sonya Sachdeva (Northwestern University in Evanston) et al.: Psychological Science, Online-Vorabveröffentlichung ddp/wissenschaft.de ? Ilka Lehnen-Beyel