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Das Wissen um unsere Gene erfordert einen neuen Verhaltenskodex

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Das Wissen um unsere Gene erfordert einen neuen Verhaltenskodex
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Was uns in einer ersten Rohfassung in wenigen Wochen vorliegen wird, wenn die Genjäger Craig Venter und Francis Collins ihren Wettlauf ums menschliche Genom beendet haben, ist im Computer gespeichertes Katalogwissen. Wir werden erfahren, wie viele Gene den Menschen formen, so wie wir seit 1543 wissen – als der Anatom Andreas Vesal einen Menschenatlas veröffentlichte – wie viele Knochen und Gelenke wir haben und welche Muskeln sie bewegen.

Wir werden austüfteln können, welche Gene als Bauvorschrift für Proteine dienen, welche Textstellen im Erbgut Signale sind, mit deren Hilfe das Ablesen des Bauplans reguliert wird, was nur sinnfreier Leertext ist und was im menschlichen Genom Einsprengsel sind, die wir von anderen Tierarten oder von Viren im Lauf der Evolution untergeschoben bekommen haben. Der Text, den Venter und Collins liefern, wird ein Modell sein, ein Schema für das Genom der Art Mensch, keiner konkreten Person zuzuordnen. Einzelne Menschen werden Abweichungen aufweisen, im Durchschnitt alle 500 Buchstaben, so daß wir damit rechnen können, daß zwischen je zwei nicht verwandten Menschen etwa zehn Millionen Abweichungen im genetischen Alphabet ziemlich wahllos über den Text versprengt existieren. Solche Differenzen sind für die genetischen Unterschiede zwischen den Individuen verantwortlich. Diese Schätzung sieht ab von gröberen Unterschieden, die beim Menschen seltener vorkommen und Ursache vieler genetisch bedingter Krankheiten sind. Der gröbste überhaupt mit Leben und Gesundheit vereinbare Unterschied ist allerdings der zwischen Mann und Frau, die sich in einem ganzen Chromosom, also einem Teilkapitel des Genoms mit etwa zwei Prozent der gesamten Information unterscheiden. Es ist aufschlußreich, daß der Unterschied zwischen Menschenmann und Schimpansen-Männchen nur etwa 1,6 Prozent des Genoms beträgt, also rein vom Umfang der genetischen Information her geringer ist als der zwischen Menschenmann und -frau. Was aber kann uns all das Wissen um unsere im Erbgut verschlüsselten Informationen nützen? Man könnte auch fragen: Wem können sie nützen? Das Hormon Erythropoetin, zuständig für die Bildung roter Blutzellen, ist ein Beispiel – und zugleich eines für Nutzen und Mißbrauch.

Erythropoetin ist ein lebensrettendes Arzneimittel bei schweren Blutverlusten und bei Krankheiten, die zu Blutarmut führen. Gleichzeitig ist es ein beliebtes, aber illegales Dopingmittel für Ausdauersportler. Die Information über das menschliche Genom wird also Kenntnisse über viele Tausende von Eiweißen liefern und zum Aufsuchen von Wirkstoffen benutzt werden, die sich an diese Eiweiße binden, sie ersetzen, aktivieren oder blockieren. Menschliches Insulin ist ein Beispiel dafür: human-spezifisch und nur durch Übertragung des Gens in Bakterien in nennenswerter Menge herstellbar. Die Entwicklung und Einführung solcher Wirkstoffe ist eine teure Sache, die Investitionen können 100 Millionen Dollar betragen. Deshalb verlangen Firmen Schutzrechte, bevor sie investieren. Darf man aber Gene des Menschen patentieren? Darf man die Nutzung des Informationsguts aller Menschen, das Ergebnis der Evolution, auf diese Weise privatisieren? Welche in der Natur erfundene Substanz kann überhaupt als schutzrechtsfähig bezeichnet werden? Wann ist die Erkenntnis eine Entdeckung, wann ihre Anwendung eine Erfindung? Schließlich: Kann man ein Gen überhaupt als humanspezifisch deklarieren, wenn es in ganz ähnlicher, manchmal identischer Zusammensetzung auch bei Tieren vorkommt? Menschen-, Rinder- und Schweineinsulin unterscheiden sich in wenigen Bausteinen – ist das eine einzige Substanz oder sind das verschiedene? Eine wichtige Rolle wird genetische Information beim entscheidendsten Vorgang der Übertragung von Erbinformation im menschlichen Leben spielen: bei der Zeugung von Nachkommen. Hier wird ein „genetischer Paß“ großen Nutzen bringen, aber auch viel Unsinn stiften und schlimmen Mißbrauch ermöglichen. Daß ein Paar vor der Familiengründung in der genetischen Beratung ermitteln läßt, ob dem Nachwuchs eine ernsthafte Erbkrankheit drohen könnte, dagegen kann man kaum ethisch argumentieren. Das könnte für viele zum „Drum prüfe, wer sich ewig bindet“ gehören. Nicht akzeptabel wäre aber bereits die logische Folge, daß man durch künstliche Befruchtung aus Samen und Eizellen Embryonen erzeugt und nur den mit der „besten“ genetischen Ausstattung von der Frau austragen läßt. Das öffnet nämlich den Übergang von negativer Auslese gegen schwere Defekte zu privater Eugenik durch vermeintliche oder sichere Herstellung gewünschter Erbeigenschaften. Viele Menschen haben diese Überlegungen bislang rein akademisch gesehen. Aber das alles wird bald sehr konkret werden mit dem Wissen um unser Genom.

Prof. Jens Reich
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