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Der Wisent kehrt zurück

Erde|Umwelt Gesundheit|Medizin

Der Wisent kehrt zurück
Europas Großrind, der Wisent, soll in Deutschland wieder in freier Wildbahn heimisch werden. Eine Spurensuche im Rothaargebirge.

Gerade war der Eimer von Landwirt Jochen Born noch gut gefüllt mit Möhrenschnipseln. Doch kaum hat er ihn auf dem Waldboden ausgeleert, geht alles ganz schnell: Ein dumpf klackerndes Trappeln ist zu hören, dann ist das Sichtfeld gefüllt mit einer Wand aus Beige und Braun. So rasch sie hergaloppiert sind, so schnell beruhigen sich die Wisente wieder, werden zu einer gemächlich fressenden Masse. Von vorn, wenn man den Tieren im Abstand von zwei Metern gegenüber steht, wirkt ihr Körper gewaltig. Von der Seite betrachtet – der Rücken fällt nach einem imposanten Auftakt ziemlich schnell in gebogener Linie ab – erscheinen sie dagegen recht entspannt.

Das größte Kraftpaket der kleinen Herde frisst unmittelbar vor mir: Horno, ein vier Jahre alter Wisent-Bulle, rund 700 Kilogramm schwer, mit leicht zotteligem braunem Fell. Seine Silhouette zeichnet sich klar vor dem aufgelockerten Baumbestand ab. Neben ihm stülpt Gutelaune, kaum weniger stattlich, ihre Lippen über eine Handvoll Karottenscheiben. Mit zehn Jahren im allerbesten Wisent-Alter, wurde die Leitkuh im Dezember 2011 – zu ganz ungewöhnlicher Zeit im Jahr – für alle überraschend zum ersten Mal Mutter. Muskulös der Nacken jedes Tiers, eher klein im Verhältnis zum kompakt gedrungenen Körper der tief ansetzende Kopf, gebogen die Hörner. „Früher waren Wisente zwar bei uns in freier Wildbahn heimisch, doch solch eine Begegnung ist für Mitteleuropäer heute ein ungewohnter Anblick“, räumt Wildtierforscher Jörg Tillmann ein.

Auge in Auge mit dem schwergewicht

Als Wanderer wäre man überrascht, böge plötzlich – Auge trifft Auge – Horno um die nächste Fichte. Mit solchen Tieren verbindet man die Prärien Nordamerikas, die Weiten Kanadas, riesige Büffelherden, Indianergeschichten. Selbst als Mitteleuropäer ist man eher mit Bisons vertraut als mit deren nahen europäischen Verwandten, den Wisenten. Mit einer Höhe von bis zu knapp zwei Metern und einem Gewicht von bis zu 1000 Kilogramm sind sie – abgesehen von einzelnen hochgezüchteten Arbeitspferden – das größte und schwerste Landsäugetier Europas überhaupt.

Jörg Tillmann von der Tierärztlichen Hochschule Hannover ist wissenschaftlicher Leiter eines Projekts, das die erste völlig freie Wiederansiedlung von Wisenten in Westeuropa zum Ziel hat. Wir befinden uns im Rothaargebirge, im südöstlichen Westfalen. Hessen ist nicht weit und Rheinland-Pfalz auch nicht. Wir sind mitten in Deutschland und doch entfernt von dichter Besiedlung. Hier schiebt der Wald die Siedlungen zusammen, als wollte er den Häusern die Luft abdrücken. Im Durchschnitt mehr als 100 Tage mit Frost werden im Jahr verzeichnet, an mindestens halb so vielen liegt Schnee. Häufig ziehen Nebel auf, und es gibt reichlich Wolken. An diesem Tag Anfang März taucht der Himmel das Land ringsum in fahles Grau, nimmt dem Gras sein zaghaftes Grün und den Bäumen den Rest ihres Brauns.

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Wisente fühlen sich in solch einer Gegend wohl. Und so wie es aussieht, werden zwei Herden mit insgesamt rund drei Dutzend Tieren das künftig auch tun. Denn noch in diesem Jahr soll hier, in der Region Siegen-Wittgenstein, in einem der waldreichsten Gebiete der Republik, ein in Westeuropa einzigartiges Artenschutzprojekt starten: gänzlich frei laufende Wisente in einem bewirtschafteten Wald – so frei, dass nirgends ein Zaun sich ihnen in den Weg stellen wird. „Für Wisente ist das ein toller Lebensraum“, betont Tillmann. „Sie lieben ausgedehnte Wälder mit einem ausgeprägten Mosaik unterschiedlich dichter Vegetation.“

5800 FUSSBALLFELDER FÜR DIE WISENTE

Die Fakten: Herde Nummer eins – sie besteht zurzeit aus 7 Tieren, bis zu 25 sollen es einmal sein – dürfte bald schon ein knapp 5000 Hektar großes, überwiegend bewaldetes Areal im Rothaargebirge besiedeln, eine Fläche so groß wie rund 5800 Fußballfelder. Seit März 2010 leben die aus verschiedenen europäischen Erhaltungszuchten stammenden Rinder bereits in einem Eingewöhnungsgehege, wo sie auf ihr Leben in freier Wildbahn vorbereitet werden. Angeführt von Bulle Egnar und Leitkuh Araneta, werden sie durch die Wälder streifen. Wanderer dürften sie nur selten zu Gesicht bekommen.

Herde Nummer zwei, der Horno und Gutelaune sowie die beiden Jungkühe Fasel und Faye angehören, ist mit einer angepeilten Zahl von zehn bis zwölf Tieren demgegenüber so etwas wie der „ touristische Arm“ des ganzen Projekts: Die künftige Schauherde ist seit Anfang 2012 in der „Wisent-Wildnis am Rothaarsteig“ zu Hause, einem 20 Hektar großen Gebiet, 15 Kilometer entfernt von Bad Berleburg. Rund 90 Prozent des insgesamt beanspruchten Areals ist Eigentum von Richard Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg, der sich mit seinem Engagement für bedrohte Tierarten einen Namen gemacht hat.

Während die Freisetzung der künftig wild lebenden Herde noch auf sich warten lässt, erreichen die Arbeiten im Schaugehege jetzt im Sommer 2012 allmählich die Zielgerade. Erkennbar sind bereits jene Elemente, die die Riesen des Waldes den Menschen nahebringen sollen: Ein Besuchertunnel öffnet sich mitten im Gelände in Gestalt eines überdimensionierten Dachsbaus. Über einen Weg, der Bäche durchquert und an natürlichen Quellmulden vorbeiführt, erreicht man ein aus Naturstämmen gebautes erhöhtes „ Nest“, das einen Blick über die Wisent-Wildnis möglich macht. Über allem tönt von Zeit zu Zeit ein brummendes Grummeln, das dann und wann in ein grummelndes Brummen wechselt. Man hört die Wisente, auch wenn man sie nicht sieht.

Sicherer Tritt und gute Schuhe

Einfach zu gehen ist der rund drei Kilometer lange Weg im Übrigen nicht überall, man braucht gutes Schuhwerk und einen sicheren Tritt. Immerhin: Für Gehbehinderte soll es schon bald einen kürzeren, gut befestigten Weg geben. „Mit dem Projekt werden mehrere Ziele verfolgt: Es geht um Natur- und Artenschutz und die Entwicklung eines sanften Naturtourismus“, fasst Jörg Tillmann zusammen. Trotz steigender Individuen-Zahl ist die Weltpopulation der Wisente nach wie vor bedroht: An die 4500 Tiere gibt es derzeit, zwei Drittel davon leben in freier Wildbahn, überwiegend in Polen, Weißrussland, Litauen, Russland, der Ukraine und der Slowakei in fast 40 voneinander isolierten Herden. Um zu verstehen, warum sie so gefährdet sind, muss man weit in die Vergangenheit blicken.

Den Wisent, gemäß Bundesnaturschutzgesetz eine streng geschützte Art, kennt man grundsätzlich in zwei Unterarten: den Flachland-Wisent und den Kaukasus-Wisent. Die Tiere unterscheiden sich kaum, können sich problemlos miteinander paaren. Einst besiedelte der Wisent licht bewaldete Gebiete in ganz Europa: von Spanien bis zur Wolga sowie den Kaukasus. Wie präsent der Wisent bereits in früher Zeit in den Vorstellungen der Menschen war, zeigen die berühmten Zeichnungen in den Höhlen von Altamira in der spanischen Levante und in Chauvet oder Lascaux im südfranzösischen Departement Dordogne. Diese Bilder gehören zu den ältesten Kulturdokumenten der Menschheit.

Zu allen Zeiten hinterließ der Wisent Eindrücke im kulturellen Gedächtnis der Menschheit. Im Jahr 1170 reimte der Dichter Hartmann von der Aue: „Da nahten mit Grimme, mit gräulicher Stimme: Wisente …“ Und im Nibelungenlied wird Siegfrieds Jagdglück im Wald der Vogesen so beschrieben: „Darnach schlug er schiere einen Wisent, einen Elch und starker Ure viere.“ Insbesondere in der polnischen Literatur und Kunst erfährt das Wildrind reichlich Würdigung.

Bereits ab dem 11. Jahrhundert mehr und mehr von Jägern dezimiert, verschwand der Wisent zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert weitgehend aus dem Gebiet des heutigen Deutschlands. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts streiften frei lebende Wisente nur noch durch den Urwald von Białowieza im heutigen Osten Polens und durch den Kaukasus. 1919 wurde der letzte frei lebende Flachland-Wisent in Białowieza gewildert, 1927 der letzte durch den Kaukasus wandernde Wisent von marodierenden Soldaten geschossen. Nur 54 Wisente überlebten – alle wurden in Tiergärten und Wildparks gehalten.

RETTUNG DURCH ZUCHT

Doch dann setzte etwas ein, das man jener Zeit gar nicht zuschreiben würde: Nach ersten Versuchen bereits im 19. Jahrhundert kam es 1923 mit Nachdruck zu einem Zusammenschluss verschiedener Initiativen, die sich der Rettung des Wisents verschrieben. Man machte sich auf die Suche und fand für die Unterart des Flachland-Wisents noch vier Bullen und drei Kühe für die Zucht. Die Kaukasuslinie allerdings war gar nicht mehr rein nachzüchtbar. Aus nur noch einem letzten verbliebenen Kaukasus-Wisent-Bullen und elf Wisenten der Flachland-Variante entstand die heutige hybride Flachland-Kaukasus- Linie des Wildrindes.

Alle derzeit im Europäischen Wisent-Zuchtbuch – das älteste Zuchtbuch einer Wildtierart – verzeichneten Wisente gehen also auf diese zwölf Tiere zurück. Und hier liegt das Problem: Die Wissenschaftler nennen es „genetischer Flaschenhals“, die Folgen daraus „Inzuchtdepression“. „Die genetische Verarmung fördert ein negatives Durchschlagen genetischer Fehler“, erläutert Wanda Olech Piasecka, Professorin am Department of Animal Genetics der Universität Warschau, die zurzeit das Europäische Wisent-Zuchtbuch führt. „Das bedeutet zum Beispiel, dass die Tiere ein anfälligeres Immunsystem haben.“ Die Wissenschaftlerin hat Gen-Abschnitte auf verschiedenen Wisent-Chromosomen untersucht und unter anderem gezeigt, dass sich bei den Stieren die Y-Chromosomen schon fast nicht mehr unterscheiden. Ein klarer Fall genetischer Verarmung, meint Wanda Olech.

Gefährliches Blauzungen-Virus

Was mangelnde genetische Vielfalt für eine Tierpopulation bedeuten kann, zeigt sich, wenn eine Infektionskrankheit die Bestände erreicht. Dramatisch wirkte sich im Sommer 2007 das Auftreten des Blauzungen-Virus aus: Mancherorts wurden die Herden zu großen Teilen dezimiert, im Wisent-Gehege Hardehausen in Ost-Westfalen etwa verendete innerhalb weniger Tage ein gutes Drittel des Bestands an der Seuche, darunter beide Zuchtbullen. „ Wir haben eben bei den Wisenten nur den Gen-Pool jener zwölf Tiere, mit denen vor 100 Jahren die Neuzucht begonnen wurde“, sagt Wanda Olech. „Da gibt es nicht die Möglichkeit, das genetische Material aufzufrischen wie bei anderen seltenen Wildtieren, von denen immerhin noch zuchtfähige Exemplare in Zoos leben.“

Das Thema Krankheiten bewegte denn auch die Landwirte in der Region rings um das Rothaargebirge, als 2003 die Idee einer in ihren Wäldern gänzlich frei lebenden Wisent-Herde aufkam. Könnte eine schnell und massiv sich infizierende Herde Eintrittspforte für Erkrankungen sein und diese an die Rinderherden vor Ort weitergeben? Ein großes Problem in einer Region, die extensive Viehhaltung als einzige nennenswerte Landwirtschaft kennt.

Das Bedrohungspotenzial hat viele Namen: Maul- und Klauenseuche, Lungenwürmer, Rinderseuche, Rindertuberkulose, Schmallenberg-Virus und anderes mehr. Die Gefahr ist nicht völlig von der Hand zu weisen, und doch sieht man das Ganze inzwischen offensichtlich entspannter, fragt man vor Ort nach. Die Angst scheint den Bauern vorerst genommen – wohl auch, weil die Wisente nicht unmittelbar auf Vieh treffen werden. Zumindest zunächst nicht. Denn niemand weiß mit Sicherheit, ob die Wildrinder standorttreu bleiben werden, auch wenn die bisherige Erfahrung dafür spricht.

ENTSCHÄDIGUNG FÜR die BAUERN

In jedem Fall scheinen die Wisente anfällig zu sein. „Bei unseren polnischen Beständen haben wir über die Jahre eine starke Zunahme des parasitären Befalls gesehen“, sagt Rafał Kowalcyk vom Mammal Research Institute der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Die Inzuchtdepression machen die Forscher auch verantwortlich dafür, dass immer häufiger unterentwickelte oder falsch liegende Hoden sowie Nebenhoden-Zysten bei Bullen beobachtet werden. Ebenfalls bei männlichen Tieren tritt vermehrt eine gefährliche Vorhautentzündung auf mit eitrigen Hautstellen am Penis. „Bislang sind dafür weder die Übertragungswege hinreichend erforscht noch die Krankheitserreger eindeutig identifiziert“, erläutert Tillmann. Die Erkrankung, die in der Ukraine zur Auflösung einer Population führte und wegen der im Urwald von Białowieza eine Reihe von Bullen abgeschossen werden mussten, befällt gelegentlich schon Kälber.

Wenn Schäden auftreten oder Krankheiten übertragen werden, zahlen viele Staaten Mittel- und Osteuropas Entschädigungen an Land- und Forstwirte – auch, um eine Für-und-Wider-Diskussion über den Wisent zu verhindern. Die Angaben über die Summen unterscheiden sich jedoch deutlich. „Wenige Hundert Euro insgesamt im Jahr 2011″, meldet Kajetan Perzanowski, Professor am Institut für Zoologie der Polnischen Akademie der Wissenschaften, für die Herden in den Karpaten. 100 000 Euro in 2010, bezogen auf alle polnischen Bestände – diese Zahl kommt von Rafał Kowalcyk. 30 000 Euro seien es 2011 in Litauen gewesen – immerhin 15 000 Euro weniger als 2010. „In Litauen sind Wisente die einzige Tierart, für die der Staat Bauern Ausgleichszahlungen für entstandene Schäden gewährt“, sagt Linas Baliauskas vom Nature Research Centre in der Hauptstadt Vilnius.

„EIN SCHEUES TIER“

Und in Schottland sei der Wisent sogar per Gesetz als gefährliches Tier eingestuft, sagt Joep van de Vlasakker von der in den Niederlanden ansässigen Flaxfield Nature Consultancy. Das bedeute dann bestimmte Auflagen, aber eben auch Ansprüche „im Konfliktfall“. „Dabei ist der Wisent ein scheues, kein aggressives Tier.“ Der international renommierte Wisent-Experte kommt umgehend auf die im Rothaargebirge vorgesehene freie Wiederansiedlung der Tiere zu sprechen: „Es ist das am besten vorbereitete Auswilderungsvorhaben, das ich kenne!“ Insbesondere die zeitige Einbindung aller Beteiligten sei vorbildlich – von den Entscheidungsträgern in der Politik über die Wissenschaftler bis hin zu den Bürgern, Förderern und Unterstützern. In allen Ländern ist die Einstellung der Bevölkerung gegenüber dem Wisent positiv, schenkt man den Befragten Glauben. So auch in Dänemark, wo man ebenfalls in diesem Jahr auf der Insel Bornholm eine Herde Wisente in die freie Wildbahn entlassen will. „Heute wird in der dänischen Bevölkerung und von den Politikern der Wald vor allem als wichtiger Hort zum Schutz und zur Mehrung von Biodiversität gesehen – das war vor zehn Jahren noch ganz anders“, sagt Erling Krabbe von der staatlichen Nature Agency in Kopenhagen, die dem dänischen Umweltministerium untersteht.

Und wie ist die Stimmung im Siegen-Wittgensteiner Land? Aktuell läuft die Auswertung einer Umfrage, an der 500 Menschen in der Region teilgenommen haben. Durch den Vergleich mit einer ähnlichen, inzwischen drei Jahre alten Befragung werden sich Entwicklungen aufzeigen lassen. Seinerzeit hatten sich in zwei ein halbes Jahr auseinanderliegenden Erhebungswellen im Kreis Siegen-Wittgenstein jeweils rund 70 Prozent der Befragten für das Projekt ausgesprochen, während im benachbarten Hochsauerlandkreis die Zustimmung von 73 auf rund 53 Prozent sank. Das heißt: Die Wisente sollten vielleicht nicht unbedingt ins Hochsauerland laufen, wenn es nach den Bewohnern geht. Wanderer, die unmittelbar am Rothaarsteig befragt wurden, votierten im Übrigen stets mit über 90 Prozent für eine Freisetzung der Wisente.

50 METER FLUCHTDISTANZ

Die Befragungen der Siegener Forscher sind nur eines von einem halben Dutzend Standbeinen der aktuell laufenden Begleitforschung. Sie soll nicht zuletzt prüfen, ob die Bedingungen für eine Ansiedlung erfüllt sind. Mit dem Verhalten des Wisents und damit, was geschieht, wenn er auf Menschen trifft, beschäftigen sich andere Siegener Wissenschaftler. Schließlich muss der Wisent zeigen, dass er wirklich ein „wildes Tier“ ist, folglich den Menschen scheut und flieht. „Egal ob Wanderer, Jogger, Fotograf, Mountainbiker: Die Fluchtdistanz der hier auszuwildernden Wisente liegt im Sommer bei rund 50 Metern, im Winter allerdings deutlich darunter“, nennt Doktorand Philip Schmitz erste Ergebnisse von Freiland-Experimenten. Die Verhaltensbiologin Klaudia Witte unterdessen ist überzeugt, dass sich bei diesen Tieren, denen man für gewöhnlich eine Fluchtdistanz von mindestens 100 Metern zuschreibt, die Scheu vor Menschen nach der Auswilderung verstärken wird. Das zeigen etwa Beispiele ausgebüxter und dann verwilderter Hausrinder.

Andere Forscher beschäftigen sich damit, welche Auswirkungen es auf die Tier- und Pflanzenwelt geben könnte. Schließlich wirft sich der Wisent gern auf den Boden und nimmt ein Bad in Sand und Staub. Er hält durch Fraß lichte Flächen im Wald offen, schält Bäume – und wo er hintritt, da wächst so manches Kraut nicht mehr.

Mit brennendem Interesse studieren die Forscher auch den Wisent-Kot. Der Dung sorgt für vieles: Durch ihn verbreiten sich Pflanzensamen. Vor allem aber zieht er Würmer, Käfer und andere Insekten an, die wiederum von Vögeln und Fledermäusen verzehrt werden. Insbesondere Dungkäfer, die durch ihre Nahrung und Brutpflege unmittelbar von den Exkrementen der Weidetiere abhängen, sind ein wichtiger Indikator für die Artenvielfalt. Forscher haben im Wisent-Kot deutlich mehr Dungkäfer-Individuen pro Kilogramm Probemasse gefangen als in Wildlosung. Auch ist die Zahl der im oder vom Wisent-Kot lebenden Dungkäfer-Arten mit rund 20 deutlich höher. Der Zuwachs an Biodiversität bereichert den Speiseplan so manchen Fressfeindes.

KEIN KONKURRENT ZUM HIRSCH

Auch die Vegetationsökologen sehen die Ansiedlung des Wisents mit Spannung: Solche großen Pflanzenfresser seien wichtig zur Erhaltung von Natur- und Kulturlandschaften, gerade wenn sie das Zuwachsen von Flächen verhindern oder die Vegetationsdecke öffnen, ist von Forschern aus dem Hessischen zu hören. „Wir erwarten, dass sich Pflanzen ansiedeln werden, die mit Tritt und Fraß gut zurechtkommen – etwa die Arnika“, erläutert Samuel Hoffmeier von der Universität Frankfurt am Main.

Als vierte Hochschule ist die Universität Göttingen im Boot. Von dort kommen die Forstwissenschaftler, die den Baumfraß im Verlauf der Jahreszeiten dokumentieren. Der Wisent ist zwar im Wesentlichen ein „Graser“ und ernährt sich von Gräsern und Kräutern, er weidet aber auch Büsche ab und entrindet Bäume. Als typischer Raufutterverwerter bevorzugt er andere Arten und Pflanzenteile als Rehe oder Hirsche. Er ist damit kein Nahrungskonkurrent, und ihm kommt eine eigene Rolle im Ökosystem zu. Ob im Winter zugefüttert werden muss, darüber gehen die Meinungen auseinander. Die Rothaargebirgs-Herde hofft man damit jedenfalls zur Standorttreue zu erziehen.

Die neue Heimat für den Wisent wird übrigens aus dem Konjunkturpaket der Bundesregierung gefördert: 250 000 Euro fließen aus diesem Topf. Auf insgesamt 1,2 bis 1,7 Millionen Euro zunächst bis 2014 sollen sich die Kosten belaufen. Den Löwenanteil geben der Bund beziehungsweise das Bundesamt für Naturschutz und das Land Nordrhein-Westfalen, die Wittgenstein-Berleburg’sche Rentkammer stellt einen Großteil des Projektgebietes zur Verfügung, und mit geringen Summen sind auch der Kreis Siegen-Wittgenstein beteiligt sowie die Stadt Bad Berleburg. Schon mutig, wenn man bedenkt, dass die Kommune äußerst klamm ist.

75 000 Touristen mehr

Aber so darf man vielleicht nicht rechnen, schließlich sollen sich die Wisente nicht nur vermehren und die Biodiversität bereichern, sondern auch Touristen anlocken und die regionale Wirtschaft fördern. „Das Gutachten im Zuge der Machbarkeitsstudie lässt auf rund 75 000 Touristen für die Wisent-Wildnis hoffen – ein kleiner, ein feiner, ein naturnaher Tourismus“, sagt Michael Emmrich, Sprecher des Trägervereins Wisent-Welt-Wittgenstein. Die Hoteliers und Gastwirte in der strukturschwachen Gegend freuen sich – nichts anderes ist bei einem Stimmungstest vor Ort zu hören.

Und so wundert es nicht, dass immer mehr Institutionen das Projekt unterstützen: der Verein Taurus Naturentwicklung, die Deutsche Umwelthilfe, die Zoologische Gesellschaft Frankfurt am Main, das Large Herbivore Network – und inzwischen über ein halbes Dutzend kleiner und großer Unternehmen als weitere Sponsoren. Große Akzeptanz in der Öffentlichkeit vorausgesetzt, alle rechtlichen Hürden genommen und mit positiven Ergebnissen der Begleitforschung im Gepäck, hoffen die Initiatoren auf grünes Licht für die Auswilderung durch das Land noch in diesem Jahr. Die Freisetzung von Bulle Egnar und seinen Artgenossen könnte zum Jahresende 2012 erfolgen. „Nur bedingt vorhersehbar ist natürlich das Raumverhalten und ob es gelingt, die Herde räumlich zu lenken und in der Nähe zu halten“, sagt Tillmann und trifft damit die spannendsten Aspekte des Projekts. An Technik für die Überwachung wird nicht gespart, auch GPS kommt zum Einsatz.

Mit der Schauherde dürfte es schneller gehen: Die „ Wisent-Wildnis“ soll noch im Spätherbst eröffnen. „Der Wisent dürfte sich hier wohlfühlen. Er findet ein ruhiges Rückzugsgebiet vor mit aufgelockertem Wald, mit Weiden, Wiesen und Windwurf-Arealen als bevorzugten Äsungsflächen sowie ausreichend Wasserstellen“, meint Tillmann. Bleibt abzuwarten, ob sich auch diejenigen wohlfühlen, die auf das zottelige Großrind später in„ freier Wildbahn“ treffen. Die Chancen dafür stehen gut. ■

CHRISTIAN JUNG, der bereits zwei Journalistenpreise für bdw-Artikel erhielt, war drei Tage auf Wisent-Tour im Rothaargebirge.

von Christian Jung

GEWINNEN SIE MIT DEN WISENTEN!

Haben Sie Lust bekommen, sich Horno und seine Freunde persönlich anzuschauen? Dann beteiligen Sie sich doch an unserer bild-der-wissenschaft-Sonderverlosung: Schreiben Sie eine Postkarte an Redaktion bild der wissenschaft, Maren Hövelmann, Ernst-Mey-Straße 8, 70771 Leinfelden-Echterdingen oder schicken Sie eine Mail an maren.hoevelmann@konradin.de Stichwort: Wilde Wisente Zu gewinnen gibt es 10 Gutscheine für jeweils 2 Eintrittskarten in die Wisent-Wildnis am Rothaarsteig, 3 T-Shirts mit Wisent-Motiven sowie 5 Bildbände. Einsendeschluss ist der 15. August 2012. Bitte vergessen Sie nicht, Ihre Postadresse anzugeben! Einen großen Dank an die Wisent-Welt Wittgenstein für die freundliche Unterstützung!

Kompakt

· Europas Großrind, der Wisent, war Anfang des 20. Jahrhunderts fast ausgestorben.

· Dank gezielter Züchtung gibt es heute in Europa wieder 4500 Tiere, die allerdings sehr anfällig für Krankheiten sind.

· Im Rothaargebirge soll jetzt eine Herde ausgewildert werden und allmählich auf 25 Exemplare anwachsen.

Unterwegs zu den Wisenten

Im südöstlichen Westfalen warten gleich drei Attraktionen: In der Stadt Bad Berleburg können Sie sich in der Wisent-Erlebnisausstellung (1) spielerisch über die Tiere informieren. 15 Kilometer von der Stadt entfernt treffen Sie in der Wisent-Wildnis am Rothaarsteig (2) Horno, Gutelaune und ihre Gefährten. Wenn Sie es noch wilder mögen, können Sie ab 2013 durch den Wisent-Wald (3) wandern, um dort dem Bullen Egnar oder einem der anderen Tiere aus dem Wisent-Auswilderungsprojekt zu begegnen.

Jörg Tillmann

Wer mit Jörg Tillmann unterwegs ist, darf keine Angst vor großen Tieren haben. Bis auf wenige Meter nähert er sich den Wisenten. Tiere sind seine Leidenschaft – das verwundert nicht bei einem, der Agrarwissenschaften und Umweltmanagement studiert hat. Von der Universität Gießen führte ihn sein Weg zunächst an das Ökologiezentrum der Universität Kiel, dann 2004 ans Institut für Wildtierforschung an der Tierärztlichen Hochschule Hannover. Hier beschäftigt er sich heute mit der „nachhaltigen Integration von großen Pflanzenfressern in Kulturlandschaften“ und mit den Problemen kleinerer Tiere wie Rebhuhn, Feldhase, Feldlerche und Waldschnepfe in Agrarräumen. Aktuell geht er in einem Forschungsprojekt der Frage nach, wie sich der zunehmende Anbau von Pflanzen zur Energieproduktion auf die Zusammensetzung der Tier- und Pflanzenwelt auswirkt.

Mehr zum Thema

INTERNET

Website der Wisent-Welt Wittgenstein: www.wisent-welt.de/

AUSSTELLUNG

Kurioses, Wissenswertes und Faszinie-rendes rund um den Wisent bietet eine Erlebnisausstellung in Bad Berleburg: www.wisent-welt.de/wisent- erlebnisausstellung/

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