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Die Dynamik des Lügens

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Die Dynamik des Lügens
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Aus kleinen Lügen werden im Laufe der Zeit immer größere (Foto: 5432action/iStock)
Wer auf die sprichwörtlich „schiefe Bahn“ gerät, der beginnt oft mit kleinen Verstößen gegen Moral und Ehrlichkeit, die dann immer weiter eskalieren. Warum das so ist, enthüllt nun ein Experiment: Bei wiederholtem eigennützigen Lügen verringert sich im Laufe der Zeit die Reaktion unseres Gefühlszentrums. Das instinktive Unwohlsein beim Lügen schwindet immer mehr. Das wiederum senkt allmählich die Hemmschwelle auch gegenüber größerer Unehrlichkeit – wir stumpfen ab.

Lügen gilt in nahezu allen Gesellschaften als unmoralisch – eigentlich. „Menschen empfinden Unehrlichkeit aus Eigennutz als moralisch falsch“, erklären Neil Garrett vom University College London und seine Kollegen. „Wenn sie dennoch lügen, berichten sie von einem Unwohlsein, das dies in ihnen auslöst.“ Das aber ändert nichts daran, dass Unehrlichkeit und Schummeleien dennoch weit verbreitet sind. Häufig, so zeigen es Studien, gerät ein Mensch dabei ganz allmählich auf die sprichwörtlich schiefe Bahn: Aus zunächst wenigen kleinen Flunkereien werden im Laufe der Zeit immer mehr und größere Lügen. „Ob bei Finanzbetrug, Plagiaten, Online-Betrügereien oder wissenschaftlichem Fehlverhalten, die Täter beschreiben hinterher oft, wie sich Entscheidungen für kleinere Unehrlichkeiten mit der Zeit lawinenartig zu beträchtlich schwerwiegenderen Lügen aufschaukeln“, berichten die Forscher. Aber warum? Garrett und seine Kollegen vermuteten, dass hierbei eine Art Abstumpfung zum Tragen kommen könnte: Ähnlich wie bei anderen emotionalen Reaktionen auch könnte unser instinktives Unwohlsein möglicherweise bei wiederholtem Lügen schwächer werden – und damit die Hemmungen verringern.

Um diese Hypothese zu testen, führten die Forscher ein Spielexperiment mit 80 Probanden durch, während diese in einem Hirnscanner lagen. Sie wurden gebeten, die Mengen an Münzen in einem Gefäß möglichst genau zu schätzen und diese Zahl per Computer an einen ihnen unbekannten Spielpartner zu senden. Die Bedingungen, unter denen beide Partner eine Belohnung erhielten, änderten sich jedoch im Laufe der verschiedenen Durchgänge. In der Basisvariante profitierten beide Partner, wenn die Schätzung möglichst genau ausfiel. Bei einer weiteren Variante jedoch erhielt der erste Teilnehmer mehr Belohnung, wenn er seinem Partner einen zu hohen Schätzwert übermittelte – er also die Menge der Münzen überschätzte. Das Experiment war damit bewusst so angelegt, dass die Teilnehmer ungestraft und zum eigenen Vorteil schummeln konnten. Was sich dabei in der Amygdala abspielte, dem Emotionszentrum des Gehirns, beobachteten die Wissenschaftler durch die Aufnahmen der funktionalen Magnetresonanztomografie (fMRT).

Eskalation durch Abstumpfung

Dabei zeigte sich: Immer dann, wenn die Probanden zum eigenen Vorteil logen, wurde ihre Amygdala besonders aktiv. „Unser Emotionszentrum erzeugt ein negatives Gefühl – und das begrenzt das Ausmaß, in dem wir zu lügen bereit sind“, erklärt Seniorautor Tali Sharot vom University College London. Diese unwillkürliche Reaktion fiel am Anfang des Experiments besonders stark aus – und schlug sich im Verhalten der Teilnehmer nieder. Sie schummelten bei ihren ersten Durchgängen nur wenig, indem sie ihre Schätzwerte leicht höher ansetzten. Im Laufe des Experiments jedoch änderte sich dies, wie die Forscher feststellten: Die Reaktion der Amygdala auf eine eigennützige Lüge wurde bei den Teilnehmern schwächer, gleichzeitig schummelten sie bei den Schätzwerten immer stärker.

Nach Ansicht der Forscher spricht dies dafür, dass fortgesetztes Lügen unser Gefühlszentrum sozusagen abstumpfen lässt. Das instinktive Unwohlsein, das wir bei einer eigennützigen Lüge empfinden, nimmt dadurch im Laufe der Zeit ab. Das wiederum führt dazu, dass die Hemmungen selbst gegenüber größeren Schummeleien immer weiter schwinden. „Je mehr sich diese Reaktion abschwächt, desto größer werden dann unsere Lügen“, sagt Sharot. „Das führt dann zur schiefen Bahn, wo anfangs kleine Akte der Unehrlichkeit zu immer schwerwiegenderen Lügen eskalieren.“ Die Ergebnisse dieses Experiments bestätigen damit den Eindruck, dass ständiges Lügen zu einer Art moralischen Abstumpfung führt – und sie erklären, warum dies so ist. Gleichzeitig wirft dies die spannende Frage auf, ob diese Abstumpfung auch in anderen Bereichen auftritt. „Wir haben in unserem Experiment nur die Unehrlichkeit getestet“, sagt Garrett. „Aber das gleiche Prinzip könnte auch bei anderen Handlungen wie gewalttätigem oder riskantem Verhalten zu Eskalationen führen.“

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Quelle:

© wissenschaft.de – Nadja Podbregar
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