In den ersten Monaten nach unserer Geburt saugt unser Gehirn Sprachlaute auf wie ein Schwamm. „Im ersten Lebensjahr ist das Gehirn eines Kindes quasi darauf geeicht, Informationen über die Laute zu sammeln und zu speichern, die für die Sprache um sie herum wichtig sind“, erklärt Lara Pierce von der McGill University in Montreal. „Das ist der erste Schritt in der Sprachentwicklung.“ So zeigen Studien, dass schon Säuglinge darauf reagieren, wenn ihnen statt der gewohnte Sprache eine Fremdsprache vorgespielt wird. Gleichzeitig sorgt die hohe Plastizität des Gehirns in den ersten Lebensjahren dafür, dass Kleinkinder in neuer Umgebung sehr schnell umschalten und eine neue Sprache lernen können. Das gilt beispielsweise für Kinder, die als Waisen von Eltern in einem anderen Land adoptiert werden – in Zeiten der Globalisierung keine Seltenheit. Dass solche Kinder enorm schnell die neue Sprache lernen und meist ihre ursprüngliche Muttersprache sogar vergessen, ist schon länger bekannt. Ob diese Erfahrung des frühen Sprachwechsels aber Spuren im Gehirn hinterlässt und welche, war bisher unbekannt.
Pierce und ihre Kollegen haben dies nun anhand von Kindern untersucht, die als Kleinkinder aus China nach Frankreich gekommen und von französischen Eltern adoptiert worden waren. Die Kinder waren bei Adoption im Durchschnitt erst ein Jahr alt und hatten ab diesem Zeitpunkt kein Wort chinesisch mehr gehört oder gesprochen. Zum Zeitpunkt der Studie waren diese Kinder zwischen 10 und 17 Jahre alt. Für ihr Experiment spielten die Forscher den Kindern eine Reihe von Pseudowörtern vor und baten sie, immer dann auf einen Knopf zu drücken, wenn sie ein französisch klingendes Wort hörten. Während des Tests zeichneten die Wissenschaftler die Hirnaktivität ihrer kleinen Probanden mittels funktioneller Magnetresonanz-Tomografie /fMRT) auf. Den gleichen Test führten die Wissenschaftler mit zweisprachig chinesisch-französisch aufgewachsenen Kindern durch und mit französischen Kindern, die rein einsprachig aufgewachsen waren.
Gehirn reagiert wie bei Zweisprachigen
Das Ergebnis: Bei den rein französischen Kindern waren während der Aufgabe vor allem die Areale aktiv, die den phonologischen Arbeitsspeicher unseres Gehirns bilden – wie erwartet. Bei den zweisprachig aufgewachsenen Kindern kamen dagegen weitere Hirnareale hinzu, die allgemein für Aufmerksamkeit und non-verbales Gedächtnis zuständig sind. „Das zeigt, dass das Gehirn dieser Kinder alternative Systeme hinzuzieht, um die Aufgabe zu bewältigen“, erklären die Forscher. Das Überraschende aber: Das gleiche Muster der zusätzlichen Aktivierung zeigte sich auch bei den Kindern, die zwar als Kleinkind Chinesisch gehört hatten, aber seither komplett einsprachig aufgewachsen waren. „Dies deutet darauf hin, dass diese Kinder das Französische heute anders verarbeiten als komplett einsprachige Kinder“, sagt Pierce. Von ihrem Gehirn her sind diese Kinder noch immer zweisprachig – selbst wenn sie kein Wort Chinesisch mehr können.
Dass das Gehirn die typischen Laute der ersten Sprache tatsächlich nie vergisst, zeigte ein weiterer Test: Spielten die Forscher den adoptierten Kindern chinesische Laute vor, reagierte ihr Gehirn genauso wie bei einsprachig chinesisch aufgewachsenen – obwohl die Kinder keinerlei bewusste Erinnerung mehr an ihre ursprüngliche Sprache besaßen. Nach Ansicht der Forscher belegt dies, dass der erste Kontakt mit einer Sprache das Gehirn dauerhaft prägt. Selbst wenn wenig später eine zweite Sprache zur Muttersprache wird, bleibt sie für das Gehirn die Sekundärsprache – egal wie fließend und automatisch sie gesprochen wird. „Überraschend ist dabei, dass selbst relativ kurze Verzögerungen beim Lernen des Französischen oder ein nur kurzes Gewöhnen an eine andere Sprache schon ausreicht, um die neuronalen Muster beim Verarbeiten der Sprache zu verändern“, betonen die Forscher.