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Die ersten Säuger: Bissige Erfolgstypen

Erde|Umwelt

Die ersten Säuger: Bissige Erfolgstypen
Die Säugetiere des Erdmittelalters galten bislang als unspezialisierte, nachtaktive Insektenfresser, kaum größer als eine Maus. Doch neue Fossilienfunde zeigen: Die frühen Säuger waren erstaunlich vielfältig und eroberten sogar Wasser und Luft.

Die Fundstücke, die Thomas Martin begeistern, sehen aus wie Streusplitt. Die glänzenden schwarzen Körnchen sind etwa einen Millimeter groß und unregelmäßig geformt. Erst wenn der Bonner Paläontologe die Krümel unter das Mikroskop legt, geben sie ihr Geheimnis preis: Durch die Vergrößerung werden wenige Mikrometer kleine Höcker und Gruben sichtbar. Sie verraten, dass es sich bei den Körnchen aus dem Mineral Apatit um Zähne handelt – und zwar von urzeitlichen Säugetieren.

Martins Spezialgebiet sind Säuger, die während der Erdzeitalter Trias, Jura und Kreide auf der Erde lebten – vor 210 bis 65 Millionen Jahren. Zu einer Zeit also, als noch die Dinosaurier die Welt beherrschten und lange bevor die Säugetiere ihre heutige Stellung als dominierende Landtiere einnahmen. Säugetierfossilien aus dem Erdmittelalter, dem Mesozoikum, sind ein rares Gut: Außer Zähnen, den härtesten Körperbestandteilen, ist nur wenig von den winzigen Pelztieren übrig. Säugetier-Experten wie Thomas Martin sind daher vor allem Experten für Zähne. Denn die Apatit-Körnchen haben es in sich: Ein Zahn vom richtigen Ort und aus der richtigen Zeit – und die Säugetiergeschichte eines ganzen Kontinents muss neu geschrieben werden.

URALTE FELLABDRÜCKE

Noch vor wenigen Jahren galten die Säugetiere des Erdmittelalters als recht unspektakuläre Forschungsobjekte. Die gemeinsamen Urahnen von Menschen, Kängurus und Schnabeltieren sowie ihre Verwandten stellte man sich allesamt als primitive, unspezialisierte Tiere vor – langweilig verglichen mit ihren Zeitgenossen, den furchteinflößenden Dinosauriern. Dieses Bild hat sich inzwischen gründlich gewandelt. Zwar sind die Forscher nach wie vor davon überzeugt, dass die meisten der Ursäugetiere winzig waren – aber: „Sie waren perfekt an ihren jeweiligen Lebensraum angepasst“, sagt Thomas Martin. „Ihre Vielfalt hat jener der modernen Säuger kaum nachgestanden.“ Dank systematischer Suchkampagnen in China und Nordamerika bekamen er und seine Kollegen in den letzten Jahren endlich mehr als Zähne und einzelne Knochen zu Gesicht. Mehrere fast vollständige Skelette wurden geborgen, zum Teil sogar mit Abdrücken von Weichteilen wie Haut oder Fell. Die Funde machen deutlich: Nach ihrem ersten Auftauchen vor gut 200 Millionen Jahren spezialisierten sich die Säugetiere rasch: Bereits vor mehr als 150 Millionen Jahren hatten sie Luft, Wasser und Erdreich als Lebensraum erobert. Sie fraßen nicht nur Würmer und Insektenlarven, sondern auch Pflanzen, Reptilien und Fische. „Man könnte fast sagen: Es ist alles schon mal da gewesen“, schmunzelt Martin. Zu den erstaunlichsten Vertretern der neu entdeckten mesozoischen Säuger gehört Repenomamus giganticus. Der stämmige Vierbeiner war ein gewaltiges Raubtier, einen Meter lang und 12 bis 14 Kilogramm schwer. Er lebte in der frühen Kreidezeit vor etwa 130 Millionen Jahren in der waldigen Seenlandschaft der heutigen chinesischen Provinz Liaoning, zusammen mit gefiederten Dinosauriern, frühen Vögeln, Krokodilen, Fisch- und Flugsauriern.

IN STÜCKE GERISSENE DINOSAURIER

Für die Verhältnisse des Erdmittelalters war das Tier ein Riese: Repenomamus wog etwa 500 Mal so viel wie die meisten seiner zeitgenössischen Verwandten, die kaum mehr als 20 Gramm auf die Waage brachten. Der Räuber ähnelte einem heutigen Dachs. Er war langsam, aber kräftig – eine Bestie mit scharfen, spitzen Schneidezähnen und einer kräftigen Kiefermuskulatur. Seine Beute, darunter vermutlich Dinosaurier, zerriss er in große Brocken, die er komplett verschlang.

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Ein etwas kleinerer Verwandter, Repenomamus robustus, hielt sich an Babydinos schadlos, wie ein Fund belegt: ein vollständiges Skelett samt Mageninhalt. Als letzte Mahlzeit hatte der Säuger einen jungen Psittacosaurus vertilgt, einen frühen Vorfahr des dreigehörnten Triceratops. Dieser sensationelle Fund ließ einige Paläontologen zweifeln: „Könnten räuberische Säugetiere die Evolution der Dinosaurier beeinflusst haben?“, sinnierte etwa die Biologin Anne Weil von der Duke University in North Carolina im Fachblatt Science. Schließlich lebten die beiden Repenomamus-Arten unter einer Vielzahl kleinerer Dinosaurier. „Vielleicht wurden die Saurier größer oder erhoben sich in die Lüfte, um gierigen Säugetieren zu entkommen“, überlegt Weil. Die meisten Paläontologen sehen den Zusammenhang allerdings eher umgekehrt: Womöglich wurde Repenomamus überhaupt nur deswegen so groß, weil es im Liaoning der Kreidezeit keine großen Raubsaurier gab.

Andere Säugetiere des Erdmittelalters fanden ökologischen Nischen, die die Dinosaurier nicht besetzt hatten. Zum Beispiel Fruitafossor windscheffeli, ein primitives Säugetier, das vor 150 Millionen Jahren gegen Ende des Jura im heutigen Colorado lebte: Es ernährte sich von Termiten. Mit seinen kräftigen Vorderbeinen und scharfen Klauen verschaffte sich das 15 Zentimeter lange Tier Zugang zu den unterirdischen Bauten. Seine Zähne waren stiftförmig – genau wie die Zähne moderner Ameisenbären oder Gürteltiere, die einen ähnlichen Lebensstil haben. „Die Übereinstimmung geht bis zur Wirbelsäule“, stellt John Wible vom Carnegie Museum of Natural History in Pittsburgh fest, der das Säugetier zusammen mit seinem Kollegen Zhe-Xi Luo 2005 in Science beschrieben hat. „Sowohl Fruitafossor als auch Gürteltiere und ihre Verwandten haben ein zusätzliches Gelenk zwischen den einzelnen Wirbeln, das es bei keiner anderen Säugetiergruppe gibt.“ Das Gelenk half Fruitafossor wahrscheinlich, die Wirbelsäule während des Grabens zu stabilisieren.

Ein Vorfahr von Ameisenbären und Gürteltieren ist das Säugetier aus dem Jura aber nicht. „Es handelt sich um eine bislang unbekannte Säugetier-Linie“, sagt Luo. Während Zähne und Vorderbeine des kleinen Termitenfressers schon weit entwickelt waren, wirken andere Körperteile noch primitiv: Das Schultergelenk ähnelt dem von Reptilien, und auch das moderne Säugetier-Gehör war bei Fruitafossor noch nicht vollständig.

Das Wasser hatten die frühen Säuger bereits erobert, wie ein weiterer Fund aus dem Jahr 2005 verrät. Der „jurassische Biber“ Castorocauda lutrasimilis, der vor 164 Millionen Jahren in China lebte, besaß einen platten, schuppigen Schwanz wie sein moderner Namensvetter. Mit seinen kurzen, breiten Vorderbeinen konnte er graben und schwimmen, die Zehen waren durch Schwimmhäute verbunden. Castorocauda war einen halben Meter lang und wog rund 800 Gramm. Es ist damit das größte bislang bekannte Säugetier aus dem Jura. Seine Zähne ähneln denen von Robben und frühen Walen – vermutlich ernährte sich Castorocauda von kleinen Fischen und wirbellosen Wassertieren. „Seine Lebensweise ähnelte der eines modernen Schnabeltiers“, vermutet sein Entdecker Zhe-Xi Luo.

DER WASSERMAULWURF

Ein Leben zwischen Wasser und Land führte wohl auch Haldanodon exspectatus, ein etwas später lebender enger Verwandter von Castorocauda. Erste Überreste dieses „Wassermaulwurfs“ wurden schon in den Siebzigerjahren in Guimarota, einer kleinen Zeche in Portugal gefunden (siehe Kasten „Das Pelztier-Paradies“). Die extrem breiten Oberarmknochen von Haldanodon deuten darauf hin, dass das Tier Höhlen grub. Offenbar ernährte es sich von Bodenlebewesen wie Würmern und Larven, an denen oft Sandkörner klebten. Das zeigen die stark abgenutzten Zähne älterer Tiere. Da das Skelett von Haldanodon dem des modernen russischen Desmans ähnelt, einer an Uferzonen lebenden Maulwurfart, nehmen Paläontologen heute an, dass Haldanodon eine vergleichbare Lebensweise hatte. Auch den Luftraum hatten die Säugetiere vor mehr als 150 Millionen Jahren erobert. Der Gleitflieger Volaticotherium antiquum besaß eine Flughaut zwischen Vorder- und Hinterbeinen, mit der er von Ast zu Ast segeln konnte. Knochen des 14 Zentimeter langen Tierchens wurde im Nordosten Chinas gefunden. Sein Alter ist noch umstritten, aber wahrscheinlich lebte es ebenfalls im Jura, vielleicht schon vor über 160 Millionen Jahren. Wenn das stimmt, erhoben sich die Säugetiere sogar vor dem Urvogel Archaeopteryx in die Luft. „Ein völlig unerwarteter Fund“, sagt Thomas Martin.

So sehr jedes Einzelne dieser neuen mesozoischen Säugetiere auch an einige moderne Vettern erinnert – weder Repenomamus noch Fruitafossor noch Castorocauda oder Volaticotherium sind direkte Vorfahren heute lebender Tiere. Die Urzeit-Säuger entwickelten genau die gleichen Anpassungen wie ihre modernen Ebenbilder, weil ihr Lebensstil das erforderte. Doch die Anpassungen machten sie auch unflexibel, sie mündeten alle in tote Zweige der Evolution. „ Die Entwicklung ging immer bei den kleinen, weniger spezialisierten Arten weiter“, betont Thomas Martin. Das war schon zu Beginn der Säugetiergeschichte so. Irgendwann gegen Ende der Trias, vor gut 200 Millionen Jahren, tauchten die ersten Tiere mit typischem Säuger-Lebensstil auf – zum Beispiel Morganucodon, ein zehn Zentimeter langes, flinkes Tierchen, das weltweit verbreitet war: Es hatte bereits ein typisches Säugetiergebiss, bei dem die Zähne nur einmal im Lauf des Lebens wechseln und nicht, wie bei den Reptilien, ständig nachwachsen. „ Die Backenzähne von Säugetieren müssen genau passen. Sie schleifen sich ein und können daher nicht beliebig gewechselt werden“, erklärt Martin. Diesen Preis zahlten die Säugetiere für eine verbesserte Kauleistung.

DIE KNOCHEN WANDERTEN

Am Unterkiefer von Morganucodon lässt sich der Übergang vom Reptiliengehör zum modernen Säugetier-Gehör gut erkennen. Während Reptilien nur über einen Knochen im Mittelohr verfügen, haben Säugetiere drei: Hammer, Amboss und Steigbügel. Weil die drei Knochen schwache Schallwellen besser verstärken, ist das Säugetier-Ohr empfindlicher. Außerdem ist es flexibler, weil es sich durch Abkopplung vom Kiefer leichter auf unterschiedliche Frequenzbereiche einstellen lässt. Beide Eigenschaften waren für das nachtaktive Leben der Säugetiere vorteilhaft. Die Knochen, die bei den Säugetieren zu Hammer und Amboss wurden, gehören bei den Reptilien noch zum Kiefer. Als die beiden Knöchelchen bei den Säugetieren ins Ohr wanderten, musste auch die Verbindung zwischen Unterkiefer und Schädel umgebaut werden. Die Säugetiere entwickelten ein „sekundäres“ Kiefergelenk, das viele Paläontologen als wichtigstes Merkmal für die Zugehörigkeit zur Klasse der Säugetiere ansehen. Morganucodons Unterkiefer besaß merkwürdigerweise beide Gelenke: Sowohl das für Reptilien typische, einfache Kiefergelenk als auch das neue, sekundäre Kiefergelenk der Säugetiere. Morganucodon repräsentiert also ein Übergangsstadium der Evolution. Von der späten Trias vor 205 Millionen Jahren an ist die Stammesgeschichte der Säugetiere vor allem eine Geschichte von fortlaufenden Innovationen beim Zahnbau.

Thomas Martins Schränke am Bonner Paläontologie-Institut sind gefüllt mit Tausenden von Zähnen, die einzeln in stabilen Plastik-Schachteln ruhen. „Glücklicherweise haben Säugetierzähne viele charakteristische Merkmale. Sie eignen sich hervorragend, um die Verwandtschaftsverhältnisse zu klären“, sagt Martin. Reptilien, von deren Entwicklungslinie sich die Säugetiervorfahren vor etwa 300 Millionen Jahren trennten, besitzen ein relativ einfaches Gebiss. Bei den Säugetieren entwickelten sich dagegen unterschiedliche Formen und Funktionen: Scharfe Schneidezähne zum Zerteilen von großen Nahrungsbrocken, spitze Eckzähne zum Festhalten von Beutetieren und zum Aufschlitzen von festen Panzern, und vor allem stumpfe Backenzähne zum Zermahlen der Nahrung. Die Spezialisierung der Zähne ging wahrscheinlich mit der Erfindung der Warmblütigkeit einher.

ZÄHNE ZUM QUETSCHEN

Da Säugetiere viel Energie benötigen, um ihre Körpertemperatur stabil zu halten, mussten sie die Nährstoffe besser nutzen. Die Warmblütigkeit ermöglichte den kleinen Tieren wiederum Lebensweisen, die den wechselwarmen Reptilien verschlossen blieben, insbesondere Nachtaktivität und das Leben in Gängen unter der Erdoberfläche. Die Vielfalt der Zahnformen war bei den frühen Säugern wesentlich größer als heute. „Die Evolution hat verschiedene Experimente angestellt und versucht, die Zähne zu optimieren“, berichtet Martin. „Doch der Evolutionsdruck ging eindeutig in Richtung Quetschfunktion.“ Die Wasserbewohner Haldanodon und Castorocauda etwa gehörten zu den sogenannten Docodonten („Balkenzähnern“). Ihre Backenzähne lagen schräg zum Kiefer und wurden nach außen hin immer breiter, sodass sich die Kaufläche vergrößerte. Die erfolgreichste Säugetiergruppe des Erdmittelalters, die Multituberculata oder „Vielhöckrigen“, hatte Backenzähne mit bis zu 15 kleinen Ausbuchtungen, die teilweise in Reihen angeordnet waren.

Die Multituberculata lebten vermutlich ähnlich wie Nagetiere und fraßen Knollen, Wurzeln und andere Pflanzenteile. Sie tauchten erstmals vor 165 Millionen Jahren auf, wurden aber dann von den später entstandenen Nagern verdrängt und starben vor 34 Millionen Jahren aus. Bei den Vorfahren der modernen Säugetierlinien, der Plazentatiere – zu denen auch der Mensch gehört – und der Beuteltiere, entwickelte sich vor 135 Millionen Jahren am hinteren Ende der unteren Backenzähne eine Grube, in die eine Erhebung am oberen Backenzahn wie der Stößel eines Mörsers hineinpasst. Diese hochspezialisierte Zahnform, durch die pflanzliche Nahrung besser aufgeschlossen werden konnte, galt lange als Schlüssel zum späteren Erfolg der modernen Säugetiere. Doch kürzlich zeigte sich: Eine andere ältere Gruppe von Säugetieren hatte die gleiche Zahnform unabhängig entwickelt, schon vor 165 Millionen Jahren. Bei diesen Tieren lag die Mahlvorrichtung allerdings am vorderen Ende der Backenzähne, meldeten Zhe-Xi Luo und Kollegen im November 2007 in der Zeitschrift Nature. Außerdem entwickelte sich der gleiche Zahnbau unabhängig noch bei einer dritten Gruppe: bei den eierlegenden Säugetieren der südlichen Kontinente. Deren einzige noch lebende Vertreter sind die zahnlosen Schnabeltiere und Schnabeligel. Warum die nützliche Kauleiste im Laufe der Entwicklung wieder verschwand, ist Martin und seinen Kollegen ein Rätsel. Die Geschichte dieser Gruppe liegt derzeit noch im Dunkeln. Da die systematische Suche in Afrika und Südamerika erst beginnt, stehen sicherlich noch aufregende Jahre der Säugetierforschung bevor.

Dinosaurier haben Thomas Martin dagegen nie sonderlich interessiert. Die Geschichte der Säugetiere findet er viel spannender. Er zieht einen Abguss von Henkelotherium guimarotae aus einer Schublade. Das bislang älteste bekannte Skelett eines Vertreters der Stammlinie der modernen Säugetiere passt locker in seine Hand. Der Kopf des Tiers ist so groß wie sein Daumennagel, die Rippen sind nicht viel dicker als eins seiner Haare. Ein faszinierendes Tier, findet Martin: „Seinen Nachfahren gehörte schließlich die Zukunft – nicht denen der Dinosaurier.“ ■

UTE KEHSE ist Geowissenschaftlerin und Wissenschaftsjournalistin in Delmenhorst. Sie berichtet in bdw regelmäßig über neue Funde und Erkenntnisse.

von Ute Kehse

Thomas Martin

Sein erstes Säugetierfossil entdeckte Thomas Martin als 14-Jähriger am 1. September 1974 in der Grube Messel bei Darmstadt, die damals noch frei zugänglich war: das Skelett eines Paarhufers. Das Tier, das später zu Ehren des Finders den Namen „ Massilabune martini“ erhielt, war etwa so groß wie das berühmte Urpferdchen. Nach diesem aufregenden Erlebnis stand für Martin fest, dass er Paläontologe werden wollte.

Schon in der Diplomarbeit, die er nach seinem Studium in Mainz und Tübingen in seiner Heimatstadt Darmstadt am Hessischen Landesmuseum schrieb, beschäftigte er sich mit ausgestorbenen Auerochsen und Steppenbisons aus der Eiszeit. Zu seinem heutigen Spezialgebiet, den mesozoischen Säugetieren, kam er nach seiner Promotion, als er 1991 von der Universität Bonn an die Freie Universität Berlin wechselte: „Dort waren die Schränke voll mit den Funden aus der Grube Guimarota. Die Sachen warteten nur darauf, bearbeitet zu werden.“

2004 verbrachte Martin mit seiner Familie ein Jahr in Pittsburgh am Carnegie Museum of Natural History. Dort arbeitete er eng mit einem der führenden Experten für die Säugetiere des Erdmittelalters zusammen, Zhe-Xi Luo. 2005 wechselte Martin ans Forschungsinstitut Senckenberg in Frankfurt am Main, wo er die Sektion Mammalogie leitete. Seit dem 1. Oktober 2006 ist Martin an der Universität Bonn Professor für Paläontologie. Die Fossiliensuche hat ihn bereits nach Nordwestchina, Kirgistan, ins südliche Afrika und nach Patagonien geführt.

Das Pelztier-Paradies

Am Ende des Jura, vor gut 150 Millionen Jahren, war ein großer Teil des heutigen Portugals von subtropischen Sümpfen bedeckt. Die mit Palmfarnen und Koniferen dicht bewachsene Landschaft ähnelte den Everglades in Florida. Sie lag an der Küste des Atlantiks, der sich damals gerade zu öffnen begann. Größere Dinosaurier wagten sich kaum in das tückische Gelände. Dafür war Guimarota ein Paradies für Säugetiere: Weit verbreitet war beispielsweise Henkelotherium, der über die Äste huschte, um Insekten zu fangen. Am Ufersaum wühlte sich Haldonodon durch den lockeren Urwaldboden. Und nachts suchten die ersten nagetierähnlichen Multituberculata nach Knollen und Wurzeln. Weitere größere Bewohner der Sümpfe waren Fische, Salamander, Schildkröten, Krokodile und Flugsaurier – und sogar der Urvogel Archaeopteryx.

Das Fenster zu diesem einzigartigen Ökosystem ist ein kleines Bergwerk in Portugal. Zehn Jahre lang, von 1973 bis 1982, förderten Bergarbeiter in der Guimarota-Zeche nördlich von Lissabon im Auftrag von Forschern der Freien Universität Berlin im Schnitt 100 Kilogramm Braunkohle pro Tag – einzig und allein, um darin nach Fossilien zu suchen. Die verlassene 80 Meter tiefe Grube musste dafür leer gepumpt werden, und mehrere Helfer waren rund ums Jahr damit beschäftigt, die Kohlebruchstücke nach Skelettresten und Zähnen zu durchsuchen.

Die Ausbeute kann sich sehen lassen: Insgesamt 10 000 isolierte Säugetier-Zähne, 1000 Kiefer, 20 mehr oder weniger erhaltene Schädel und 2 fast komplette Säugetierskelette kamen ans Licht – Guimarota ist bis heute eine der reichsten Fundstätten für jurassische Säugetiere. Noch vor Kurzem wurden in Berlin Funde des Großprojekts präpariert. Und neue Untersuchungsmethoden bringen immer wieder interessante Details ans Licht: Mit Hilfe der Computertomographie zeigten Bonner Forscher zum Beispiel, dass das Mittelohr von Henkelotherium einen Übergangszustand zwischen primitiven und modernen Säugetieren repräsentiert.

KOMPAKT

· Die Säugetiere hatten bereits im Erdmittelalter vor 150 Millionen Jahren eine erste Blüte.

· Ein entscheidender Vorteil der Pelztiere waren ihre hochentwickelten Zähne.

· Größere, stark spezialisierte Arten gerieten aber in eine evolutionäre Sackgasse.

MEHR ZUM THEMA

Lesen

Ursprung, Evolution und Aussehen der frühen Säugetiere: Zofia Kielan-Jaworowska, Richard L. Cifelli, Zhe-Xi Luo MAMMALS FROM THE AGE OF DINOSAURS Columbia University Press New York 2005, € 188,99

Überblick über die Funde in der ehemaligen Braunkohlegrube Guimarota in Portugal: Thomas Martin, Bernard Krebs GUIMAROTA – A JURASSIC ECOSYSTEM Friedrich Pfeil München 2000, € 60,–

Das erste deutsche Lehrbuch zur Entwicklungsgeschichte der Wirbeltiere: Michael J. Benton PALÄONTOLOGIE DER WIRBELTIERE Friedrich Pfeil, München 2007, € 48,–

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