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Ein Sinn für Geometrie

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Ein Sinn für Geometrie
Wenn Sie zwei parallele Geraden vor sich sehen, kann es eine dritte geben, die die eine schneidet, die andere aber nicht? Nein, lautet die korrekte Antwort ? und die kann man offenbar auch dann geben, wenn man in der Schule niemals etwas von Parallelen oder sonstigen geometrischen Zusammenhängen gehört hat. Das legt zumindest eine Studie eines französische-US-amerikanischen Forscherteams nahe, in der die Wissenschaftler sowohl Angehörige eines am Amazonas heimischen Stammes als auch Erwachsene und Kinder aus den USA und Frankreich testeten. Das Ergebnis: Die Mundurukú, in deren Sprache es lediglich relativ ungenaue Zahlwörter für kleine Mengen gibt, schnitten bei den Tests praktisch ebenso gut ab wie die Franzosen oder die Amerikaner. Geometrische Konzepte, so die Schlussfolgerung der Forscher, müssen also entweder bereits von Geburt an im Gehirn angelegt sein oder sie werden bei ganz grundlegenden Erfahrungen in früher Kindheit erworben, die jeder Mensch ? unabhängig von seinem kulturellen Hintergrund ? macht.

Dass die Mundurukú prinzipiell mit geometrischen Formen umgehen und auch Konzepte wie Kongruenz oder Symmetrie intuitiv erfassen können, hatte das Team bereits in einer früheren Arbeit gezeigt (siehe auch „Kongruente Dreiecke im Urwald“, wissenschaft.de vom 20.01.2006 . Doch bei den damaligen Tests habe es sich im Großen und Ganzen um Zusammenhänge gehandelt, die man aus dem täglichen Leben und dem Navigieren in der natürlichen Umgebung kennt. Geometrie gehe jedoch über das hinaus, was man mit den Sinnen erfahren könne, erläutern die Wissenschaftler. Daher hätten sie in der neuen Untersuchung prüfen wollen, ob die Mundurukú auch diese abstrakteren Seiten geometrischer Zusammenhänge verstehen könnten.

Im Fokus der Forscher standen vor allem drei Fragen: Wissen die Mundurukú, dass sich manche geraden Linien niemals schneiden? Erfassen sie, dass die Summe der Winkel in einem Dreieck immer konstant ist? Und schließlich: Verstehen sie, dass diese Zusammenhänge immer nur für Punkte und Linien auf einer flachen Ebene gelten und dass man das Konzept anpassen muss, wenn die Ebene gekrümmt ist? Um diese Fragen beantworten zu können, entwarfen die Forscher zwei verschiedene Arten von Tests. Im ersten Bereich sollten sich die Teilnehmer ? 22 Erwachsene und 8 Kinder im Alter zwischen 7 und 13 ? vorstellen, sie würden in einer idealen Welt leben, in der entweder alles vollkommen flach oder alles rund wäre wie auf einem Ball. Auf diese Welt gebe es Dörfer, dargestellt durch Punkte, und Wege zwischen diesen Dörfern, die völlig gerade verlaufen und niemals enden.

Anschließend bekamen die Probanden Fragen in Form von kleinen Skizzen vorgelegt. Dazu gehörte beispielsweise Dinge wie: Kann ein Weg einen anderen an zwei verschiedenen Stellen kreuzen? Können zwei Wege durch zwei Dörfer führen? und Ähnliches. Im zweiten Testteil sahen die Teilnehmer wieder zwei Punkte ? Dörfer ?, die nebeneinander lagen und von denen jeweils ein Weg in einem spitzen Winkel abging. Dadurch bildeten sie die Basis eines Dreiecks, dem die Spitze fehlte. Die Probanden sollten nun angeben, wo sich ein hypothetisches drittes Dorf befinden würde, zu dem beide Wege hinführen. Zudem sollten sie mit Hilfe ihrer Arme oder eines Winkelmessers zeigen, wie der Winkel der beiden Wege an diesem Dorf aussähe. Alle Tests wiederholten die Wissenschaftler mit einer Gruppe amerikanischer Erwachsener und mit einer Gruppe französischer Kinder, deren Alter dem der Mundurukú-Kinder entsprach, sowie einigen jüngeren amerikanischen Kindern im Alter zwischen 5 und 6 Jahren.

Die Mundurukú ? Kinder wie Erwachsene ? hätten bei beiden Tests bemerkenswert gut abgeschnitten, berichten die Wissenschaftler. Vor allem die Übertragung auf eine gekrümmte Ebene habe ihnen vergleichsweise wenige Probleme bereitet ? weniger als den amerikanischen Erwachsenen, die ja sogar in Geometrie ausgebildet worden seien. Allerdings seien auch den Mundurukú die Fragen, die sich auf eine flache Ebene bezogen, leichter gefallen als die, die in der runden Welt spielten. Offenbar hatten Amazonas-Bewohner, die bisher nicht mit dem theoretischen Konstrukt der Geometrie in Kontakt gekommen waren, also sowohl eine qualitative Vorstellung von abstrakten Konzepten wie etwa einer unendlichen Ebene als auch ein quantitatives Verständnis ? schließlich müssten für die Dreiecks-Aufgabe diverse Parameter wie die Länge der Grundlinie, die vorgegebenen Winkel oder die Krümmung der Oberfläche berücksichtigt werden. Bei diesem Test hatten die jüngeren Kinder aus amerikanischen Vorschulen oder Kindergärten große Schwierigkeiten.

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Offensichtlich sei das Verständnis für geometrische Konzepte also entweder evolutionär entstanden oder sehr früh erworben durch den Umgang mit der räumlichen Struktur der Umwelt, folgern die Wissenschaftler. Allerdings scheine sich dieses Grundverständnis nicht auf alle Aspekte der Geometrie zu erstrecken, wie der Test mit den jüngeren Kindern gezeigt habe. Alternativ könne es aber natürlich auch sein, dass das Konzept zwar durchaus bereits im Gehirn angelegt war, es sich jedoch noch nicht so stark verfestigt hat, dass es sich auf jede Art von Test anwenden lässt.

Véronique Izard (Harvard University, Cambridge) et al.: PNAS, Online-Vorabveröffentlichung, doi: 10.1073/pnas.1016686108 wissenschaft.de ? Ilka Lehnen-Beyel
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