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Erbsenhirne und geheime Dimensionen

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Erbsenhirne und geheime Dimensionen
Die M-Theorie ist bizarr – aber auch der bislang einzige erfolgversprechende Kandidat für eine umfassende Erklärung des Universums.

Als Edward Witten 1971 seinen Bachelor in Geschichte machte, hätte er sich nicht träumen lassen, einmal selbst Geschichte zu schreiben. Zunächst studierte er noch ein Semester Wirtschaftswissenschaft, dann Mathematik, schließlich wechselte er zur Physik. Seine Forschungen zur Quantenfeldtheorie und Supersymmetrie enthüllten bald grundlegende mathematische Einsichten. Dafür erhielt er 1990 die Fields-Medaille – die höchste Auszeichnung auf dem Gebiet der Mathematik. Sie wird von der Internationalen Mathematischen Union bloß alle vier Jahre verliehen – und nur an Kandidaten, die unter 40 Jahre alt sind. Noch bemerkenswerter: Witten ist der erste – und bis heute einzige – Physiker, dem diese Ehre zuteil wurde.

„Obwohl er definitiv ein Physiker ist, beherrscht er Mathematik besser als die meisten Mathematiker”, sagt einer der größten lebenden Mathematiker, Sir Michael Atiyah, selbst Fields-Medaillist. „Immer wieder hat er uns mit brillanten Einsichten überrascht. Sein Einfluss auf die Mathematik der Gegenwart ist tiefgreifend.”

1995 stieg Witten zum Superstar unter den Stringtheoretikern auf. Einige Experten betrachten ihn sogar als einen neuen Albert Einstein – an dessen letzter Wirkungsstätte, dem Institute for Advanced Study im amerikanischen Princeton, Witten seit 1987 forscht. 1995 hielt er einen wegweisenden Vortrag auf der Stringkonferenz in Los Angeles, der die zweite Superstringrevolution auslöste.

Stringige Fünffaltigkeit

Die erste Superstringrevolution hatte die Stringtheorie 1984 als ein erfolgversprechender Kandidat für eine allumfassende Theorie der Quantengravitation etabliert (siehe Beitrag „Die Melodie des Mikrokosmos” ab S. 42). Immer mehr Physiker beschäftigten sich mit ihr – auch, weil das Standardmodell der Elementarteilchenphysik inzwischen weitgehend ausgelotet war und eine „neue Physik” gesucht wurde, um seine Grenzen zu überwinden und die vielen offenen Fragen zu beantworten. Die Stringtheorie galt – und gilt bis heute – als ambitioniertester Vorschlag.

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Doch welche Stringtheorie? In den 1980er-Jahren war klar geworden, dass mindestens fünf Varianten existieren, die keineswegs deckungsgleich sind (siehe Tabelle auf Seite 53: „ Exkurs für Experten: Stringtheorien im Überblick”). Diese Zersplitterung bedrohte die Aussicht auf eine einheitliche Welterklärung. Und es gab ein weiteres Problem. Es war bereits vor der ersten Superstringrevolution jedem Forscher schmerzlich bewusst, wurde aber zunächst regelrecht verdrängt – nämlich in die Mathematik und den Mikrokosmos. Dort sollte es bleiben, wünschten sich viele, aber bitteschön wohldefiniert.

Die Schwierigkeit besteht darin, dass die Stringtheorie nicht in den vertrauten drei Dimensionen des Raums funktioniert, sondern mindestens sechs weitere erfordert. Das ist keine Science-Fiction-Idee, sondern ergibt sich zwingend aus der Theorie selbst. Anderenfalls wäre die Stringtheorie mathematisch inkonsistent. Und sie könnte nicht bestimmte subtile Effekte der Welt beschreiben, in der wir leben. Dazu gehört eine Symmetrieverletzung bei Prozessen, die von der schwachen Wechselwirkung vermittelt werden – der Kernkraft, die unter anderem den radioaktiven Beta-Zerfall bewirkt. Dieser Symmetriebruch zeigt sich in den Zerfallsraten mancher kurzlebiger Partikel, etwa von K- und B-Mesonen.

Wenn die postulierten Zusatzdimensionen kein mathematisches Gespenst sind, sondern real – wo befinden sie sich dann? Denn wohin man auch schaut: Neben Höhe, Breite und Tiefe scheint keine vierte Raumrichtung zu existieren – und erst recht nicht sechs weitere oder noch mehr. Es gibt keine extradimensionalen Olympia-Wettkämpfe jenseits von Weit- und Hochsprung – und das Dimensionen-Tauchen ist auch noch nicht erfunden.

KOMPAKT UND ÜBERALL

Allerdings müssen die Extradimensionen nicht groß sein. Wenn sie an jedem Punkt „kompaktifiziert” wären, wie die Physiker sagen, dann blieben sie makroskopisch verborgen. Das lässt sich mathematisch präzise beschreiben, ist aber schwer vorstellbar, denn der menschliche Verstand hat sich im Laufe der Evolution an drei Raumdimensionen angepasst.

Man kann die Kompaktifizierung mit einem Strohhalm veranschaulichen: Aus großer Distanz betrachtet, gleicht er einem Strich, hat also quasi nur eine Dimension. Doch aus der Nähe gesehen, ist er eine Röhre. Der Kreis ihres Querschnitts entspricht gleichsam einer „aufgerollten” Extradimension. Allerdings ist es bei der Stringtheorie nicht nur eine. Und die zusätzlichen Dimensionen sind sehr viel kleiner als der Durchmesser des Strohhalms im Vergleich zu seiner Länge. Außerdem befindet sich der Strohhalm natürlich im Raum, während die großen und kleinen Dimensionen der Stringtheorie den Raum erst erzeugen.

Einstein, Kaluza und Klein

Die Idee der Extradimensionen ist keine Erfindung der Stringtheoretiker. Sie hat eine respektable Vergangenheit: Schon 1919 hatte der Mathematiker Theodor Kaluza gezeigt, dass sich die Feldgleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie mit den Maxwell-Gleichungen der Theorie des Elektromagnetismus in einer fünfdimensionalen Raumzeit verbinden lassen. Dies war ein erster Ansatz für eine vereinheitlichte Feldtheorie oder „Weltformel”, nach der Albert Einstein bis an sein Lebensende gesucht hatte. Der war auch sehr beeindruckt von Kaluzas Resultat. „Ich habe großen Respekt vor der Schönheit und Kühnheit Ihres Gedankens”, schrieb er ihm. Und er half ihm, die Arbeit 1921 prominent zu publizieren.

Kaluza schlug vor, „daß man sich zu dem wohl stark befremdenden Entschluß aufrafft, eine neue, fünfte Weltdimension zu Hilfe zu rufen”, um eine einheitliche physikalische Theorie zu finden, die „zu den großen Lieblingsideen des Menschengeistes” gehöre. Angesichts des mathematischen Erfolgs sei es schwer „zu glauben, daß in all jenen an formaler Einheitlichkeit kaum zu überbietenden Beziehungen immer nur ein launischer Zufall sein lockendes Spiel treibt.” Ganz ähnlich argumentieren Stringtheoretiker bis heute: Die Theorie sei einfach in ihren mathematischen Entsprechungen zu schön, um nicht wahr zu sein.

Kritische zusatzdimension

„Ob sich Kaluzas Idee bewähren wird, kann man noch nicht sagen, Genialität wird man ihr zuerkennen müssen”, meinte Einstein, der selbst Artikel zu Kaluzas Ansatz schrieb. Allerdings wurde mit der aufkommenden Quantentheorie und der Entdeckung der starken und schwachen Kernkraft deutlich, dass eine „Weltformel” noch wesentlich umfassender sein musste, als zunächst erwartet. Außerdem geriet Kaluzas Theorie wegen ihrer Zusatzdimension in die Kritik. Doch diesen Einwand konnte wenige Jahre später der schwedische Physiker Oskar Klein entkräften. Von ihm stammt die Idee der Kompaktifizierung: Die fünfte Dimension sei unbeobachtbar, weil sie „aufgerollt” sei. Einstein war dieser Idee durchaus aufgeschlossen. Die Kaluza-Klein-Theorie weise den richtigen Weg, schrieb er 1928 in einem Brief an seinen Freund und Kollegen Paul Ehrenfest: „Lang lebe die fünfte Dimension” .

Die Stringtheorie ist freilich ein wilder Dschungel im Vergleich zum wohlgeordneten extradimensionalen Vorgarten des Kaluza-Klein-Ansatzes. Herauszufinden, wie die zusätzlichen Dimensionen aufgewickelt sein könnten, glich einer Suche im Dickicht. Erst Edward Witten fand 1985 in einer bahnbrechenden Arbeit zusammen mit Philip Candelas, Gary Horowitz und Andrew Strominger eine Lösung.

Die Physiker, die sich auf mathematische Arbeiten von Eugenio Calabi (1954) und Shing-Tung Yau (1977) stützten, wiesen nach, dass die Calabi-Yau- Mannigfaltigkeiten tatsächlich die gewünschten Eigenschaften liefern – beispielsweise die Supersymmetrie und bestimmte Symmetriebrechungen –, die das Standardmodell der Elementarteilchen und seine Erweiterungen beschreiben können.

Das war ein erstaunliches Resultat, obwohl es in schwindelerregende Abgründe der mathematischen Abstraktion verwies. (Wer es genauer wissen möchte: Ein Calabi-Yau-Raum ist eine kompakte Kähler-Mannigfaltigkeit mit verschwindender erster Chern-Klasse und äquivalent mit einer SU(n)-Holonomie oder einer global definierten, nirgends verschwindenden holomorphen (n,0)-Form oder einer flachen Metrik ohne Ricci-Krümmung – alles klar?)

Vielfalt und Revolution

Eine Kehrseite der Calabi-Yau-Kompaktifikationen ließ allerdings nicht lange auf sich warten: Die Lösungen der Stringtheorie erwiesen sich als erschreckend vielfältig. Die Konsequenzen könnten unser Universum förmlich übersteigen (siehe Beitrag ab Seite 54, „Streit unter Stringstrategen”). Noch in einer weiteren Hinsicht zeigte sich die Vielfalt als Problem: Nicht nur, weil fünf Stringtheorien um die „Wahrheit” konkurrierten, sondern auch, weil Joseph Polchinski, Petr Horava und andere Physiker eine beunruhigende Entdeckung machten: Neben eindimensionalen Strings beschreiben die Stringtheorien auch mehrdimensionale Gebilde, sogenannte p-Branen. Das p steht dabei für die Zahl ihrer Dimensionen, und „Bran” kommt von „Membran”, da zweidimensionale 2-Branen an solche flexiblen Gebilde erinnern. (Außerdem blitzt der Schalk aus dem Begriff, denn p-Bran spricht sich englisch wie „pea brain”, also Erbsenhirn.)

Doch dann kam Edward Wittens Befreiungsschlag. 1995 wies er nach, dass Strings und p-Branen, Calabi-Yau-Mannigfaltigkeiten und die fünf verschiedenen Versionen der Stringtheorie zusammenpassen, als ob sie Teile eines riesigen Puzzles seien. Mehr noch: Die so verschiedenen Stringtheorien besitzen eine abenteuerliche Verwandtschaft (siehe Grafik linke Seite, „Die Meister-Theorie”) und sind mathematisch gleichberechtigte Teile einer höheren elfdimensionalen Theorie. Witten nannte sie M-Theorie. Der indische Stringtheoretiker Ashoke Sen, wie Witten letztes Jahr mit dem mit drei Millionen Dollar dotierten Fundamental Physics Prize ausgezeichnet, favorisiert dagegen den Namen „U-Theorie” („U” für „ur, über, ultimativ, underlying, unified”.

Über die Bedeutung des Buchstaben „M” gibt es seit Jahren ein munteres Rätselraten. Es steht den unterschiedlichen Interpretationen zufolge für „Membranen”, „Master”, „Matrix”, „ majestätisch”, „Mysterium”, „Magie” oder „Mutter aller Theorien” (oder, spotten Kritiker, für „Murks”). Im bdw-Interview ab Seite 58 lüftet Witten das Geheimnis hinter der Nomenklatur.

Das M-Theorie-Rätsel

Allerdings ist nach wie vor unklar, auch für Witten selbst, was genau hinter der M-Theorie steckt. Sie ist nur rudimentär verstanden und noch sehr spekulativ, doch von enormer mathematischer Eleganz und weitreichenden, aber auch verwirrenden Konsequenzen. Der britische Physiker Stephen Hawking meint sogar: „Die M-Theorie ist der einzige Kandidat für eine umfassende Theorie des Universums.” Und er würde, wenn er die Antwort auf nur eine einzige offene physikalische Frage erhalten könnte, wissen wollen: „Ist die M-Theorie vollständig?” ■

von Rüdiger Vaas

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