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Falschspieler im Hormonhaushalt

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Falschspieler im Hormonhaushalt
Bedrohen Umweltchemikalien den Menschen? Nach gewaltigem Rummel um sinkende Spermienzahlen bei Männern ist es still geworden um die „Pseudohormone“ – Umweltchemikalien mit unerwünschten hormonähnlichen Wirkungen. bild der wissenschaft wollte wissen, was Sache ist.

Die Fortpflanzung ganzer Tierpopulationen scheint gefährdet, vor allem durch den Verlust der Männlichkeit. Und es fragt sich, ob und inwieweit auch der Mensch bereits Schaden genommen hat. Einige Studien stellten Zusammenhänge her zwischen einem Rückgang der männlichen Fertilität, bewertet vor allem anhand der Spermiendichte im Ejakulat, und dem Vorkommen sogenannter Pseudohormone, fachdeutsch: „endokriner Disruptoren“. Andere Forschergruppen erkannten keinerlei Anstieg von Fruchtbarkeitsstörungen.

Eine kritische Sichtung der Fachliteratur läßt solche Schlüsse vorläufig nicht zu. Das Umweltbundesamt (UBA) hat in der Studie „Substanzen mit endokriner Wirkung in Oberflächengewässern“ das verfügbare Material, gut 300 Studien, bewerten lassen. Eine der Fragen lautete: Reichen die bisherigen Daten aus, um die Gefahr, die von den hormonähnlich wirksamen Umweltchemikalien ausgeht, zu beurteilen? Mitautor Dr. Hasso Seibert, Toxikologe an der Universität Kiel, zieht das Fazit: „Für die meisten bisher bekannten Substanzen muß diese Frage mit ,nein` beantwortet werden.“

Inzwischen haben weltweit konzentrierte Arbeiten begonnen, um die Methoden zu standardisieren, mit denen das hormonelle Potential der verdächtigen Substanzen künftig vergleichbar und sicher geprüft werden kann. In Deutschland finanzieren das Bundesumwelt- und das Bundesforschungsministerium ein wissenschaftliches Programm im Umfang von sechs Millionen Mark. Die Liste der in der UBA-Literaturstudie aufgeführten Stoffe mit östrogener beziehungsweise potentiell östrogener Aktivität ist lang. Darauf stehen selbst dem Nichtfachmann einschlägig Bekannte wie DDT und die Biphenyle (chloriert und nichtchloriert). Hinzu kommen weniger bekannte Namen wie Alkylphenole, Naphthole, Phthalate sowie Bis(hydroxyphenyl)methane.

Und trotzdem sind sie offenbar nicht das Non-plus-ultra: „Sie mögen taugen, eine ganze Reihe von Chemikalien auszutesten, um Prioritäten festzulegen. Aber sie sind unfähig, die Toxikokinetik zu erfassen“, sagt Dr. Andreas Gies vom Umweltbundesamt, Biologe und Experte für Pseudohormone.

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Mit Toxikokinetik meinen Chemiker all das, was der Organismus mit einer Substanz anstellt: Er nimmt sie auf, verteilt sie, wandelt sie teilweise in andere Stoffe um und scheidet sie wieder aus. Gies: „In vielen Fällen wirken gar nicht die Originalstoffe, sondern erst deren Stoffwechselprodukte. Deshalb enden Tests mit Östrogen-Rezeptoren nicht nur häufig falsch positiv, sondern auch falsch negativ.“ Das heißt: Die Tests schlagen zu Unrecht Alarm, oder sie geben zu Unrecht Entwarnung.

Ein weiteres Handicap: Im Alltag wirken nicht etwa Reinsubstanzen aus dem Labor auf Mensch und Tier, sondern komplexe Cocktails aus Chemikalien. Insofern ist es sinnvoll, Kombinationseffekte zu prüfen, dachte sich unlängst auch John McLachlan, Hormonforscher an der Tulane University in New Orleans.

Seine Gruppe arbeitete mit Pestiziden: Dieldrin, Toxaphen, Chlordan und Endosulfan. All diese Substanzen, so berichteten die Forscher 1996 in einem Papier für das Fachblatt Science, zeigen einzeln nur eine relativ geringe Neigung, sich an Östrogen-Rezeptoren anzulagern. In Zweierkombinationen allerdings fand das Team bei Hefezellkulturen eine bis zu 1600fach stärkere Wirkung als erwartet. Sie nannten dies einen synergistischen oder überadditiven Effekt.

Das Ergebnis wäre – bei aller Skepsis gegenüber Reagenzglas-Versuchen – „ein Waterloo für die klassische toxikologische Bewertung“ (Andreas Gies) gewesen. Potenzierende Effekte sind ihm durchaus bekannt, zum Beispiel, wenn der eine Stoff den Abbau eines anderen behindert, „doch die Faktoren, mit denen wir es dabei zu tun haben, betragen das Zwei-, Fünf- oder Zehnfache der Wirkung der Einzelsubstanz. Faktor 1000 hingegen – das hat uns alle ziemlich nervös gemacht.“ Denn sämtliche Risikoabschätzungen für diese Art von Umweltchemikalien wären zur Makulatur verkommen.

Jedoch: Niemand vermochte weltweit das Ergebnis von McLachlans Team zu reproduzieren. Ein Jahr nach der Veröffentlichung hat der international sehr renommierte Forscher das Papier zurückgezogen. Kollegen in aller Welt warten seither auf eine Begründung.

Wie geht es nach alledem weiter? Wie soll die beunruhigte Bevölkerung mit solch unklaren, oft widersprüchlichen Befunden umgehen? Die Umweltverbände in Deutschland plädieren grundsätzlich für das Vorsorgeprinzip. Die Chemie-Industrie gibt sich einstweilen moderat. Doch sobald die Debatte sich an konkrete Substanzen oder Produkte herantastet, scheiden sich gründlich die Geister.

Hinderlich für eine Entscheidung ist auch, daß im Unterschied zum Pharmakologen der Toxikologe die Wirkung einer Substanz nicht am Menschen testen kann. Den endgültigen Beweis einer Pseudohormon-Wirkung auf den Menschen wird es daher nie geben – allenfalls den Hinweis auf ein Risiko. Dr. Ibrahim Chahoud, Reproduktionsbiologie an der Freien Universität Berlin, faßt das Dilemma zusammen: „Die Gesellschaft muß in jedem einzelnen Fall entscheiden, ob sie das Risiko eingehen will.“

Regine Halentz
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