“Obwohl die Geburt den drastischsten Wandel der Umwelt im gesamten Leben eines Säugetiers darstellt, wissen wir bisher kaum etwas über ihre Rolle für die Hirnentwicklung”, erklären Tomohisa Toda von der Kanazawa University im japanischen Ishikawa und seine Kollegen. Klar ist nur: Schon in den ersten Lebenstagen eines Säuglings bilden sich im Gehirn unzählige neue Nervenverbindungen. Im somatosensorischen Cortex – dem Zentrum für die Verarbeitung von Außenreizen – bilden sich so zunehmend wohlgeordnete Netzwerke. Dabei ist jeweils ein bestimmtes Areal der Hirnrinde für Signale aus einem bestimmten Körperteil zuständig. Aus der Zusammenarbeit dieser sensorischen Felder entsteht letztlich unsere Wahrnehmung. Was aber stößt ihre Ausbildung so kurz nach der Geburt an? Ob der Geburtsvorgang für den postnatalen Schub in der Hirnentwicklung entscheidend ist oder andere Faktoren, die die Geburt begleiten – beispielsweise der plötzliche Einstrom von Sinneseinrücken, war bisher unklar.
Sinnesfeld für Tasthaare als Testfall
Deshalb haben Toda und seine Kollegen dies nun an Mäusen genauer untersucht. Bei diesen Tieren beginnt sich die neuronale Karte, die die Wahrnehmungen der Tasthaare am Maul abbildet, unmittelbar nach der Geburt zu bilden. Im ersten Versuch testeten die Forscher, ob die Entwicklung dieser sensorischen Areale möglicherweise einfach nur ab einem bestimmten Alter beginnt. Dafür lösten sie bei einem Teil ihrer Versuchsmäuse eine Frühgeburt aus. Der Vergleich mit regulär geborenen Jungmäusen ergab, dass diese – obwohl gleich alt und gleich schwer- den Frühchen in punkto Hirnentwicklung sogar hinterher hinkten. Die Schlussfolgerung der Forscher: Das Ereignis Geburt muss die Entwicklung angestoßen haben. Weil die Frühchen schon länger auf der Welt sind, sind sie dabei auch entsprechend weiter.
Im nächsten Experiment prüften sie, welche Rolle die Umwelteindrücke unmittelbar nach der Geburt spielen. Denn möglicherweise ist ja dieser frühe Einstrom von Reizen der gesuchte Trigger für die Entwicklung des sensorischen Cortex. Um das zu testen, entfernten die Forscher bei einem Teil der neugeborenen Mäuse alle Tasthaare. Doch wie sich zeigte, machte dies keinen Unterschied: Das für die Tastreize zuständige Hirnareal formte sich bei Mäusejungen mit und ohne Tasthaare gleich gut. Der Einstrom von Reizen war demnach nicht der auslösende Faktor, so die Schlussfolgerung der Forscher.
Hormon-Abfall bei der Geburt
Der nächste Verdacht der Wissenschaftler richtete sich auf den Hormonhaushalt der Tiere – genauer gesagt den des Botenstoffs Serotonin. Dieses Hormon spielt eine wichtige Rolle für den Hirnstoffwechsel und auch für die Regulation von Empfindungen und Stimmungen. Messungen ergaben, dass der Gehalt des Serotonins im Gehirn der Mäuse unmittelbar bei und nach ihrer Geburt vorübergehend stark absinkt. Um nun herauszufinden, ob dies die Hirnentwicklung beeinflusst, blockierten die Forscher diesen perinatalen Effekt bei einigen Tieren, bei anderen verstärkten sie diese Abnahme künstlich. Das Ergebnis: Blieb die vorübergehende Ebbe des Serotonins aus, verhinderte dies auch die Bildung der Sinnesareale im Gehirn der Mäuse. Wurde das Absinken des Serotonins dagegen künstlich verstärkt, beschleunigte dies die Hirnentwicklung der Jungtiere.
“Aus unseren Ergebnissen schließen wir, dass die Geburt selbst als Trigger fungiert, der die Bildung neuronaler Schaltkreise anstößt”, konstatieren die Forscher. Das bei der Geburt stattfindende Absinken des Serotonins sei der entscheidende Auslöser für den darauf folgenden Sprung in der Hirnentwicklung. Ob ein Jungtier dabei auf normale Weise oder per Kaiserschnitt geboren wird, spielt aber offenbar keine Rolle, wie Tests ergaben. In beiden Fällen sorgte der geburtstypische Hormonabfall für den Startimpuls. Bisher haben die Forscher diesen Effekt der Geburt nur bei Mäusen nachgewiesen. Toba und seine Kollegen halten es aber für sehr wahrscheinlich, dass er auch bei anderen Säugetieren und möglicherweise auch dem Menschen auftritt.
Da Serotonin auch eine wichtige Rolle bei psychischen Erkrankungen wie der Depression spielt, könnten die neuen Erkenntnisse auch für Diagnose du Therapie solcher Krankheiten eine Rolle spielen. “Wenn wir den gesamten Signalweg enthüllen, der durch die Geburt ausgelöst wird, dann könnte das auch dabei helfen, psychiatrische Krankheiten zu behandeln, die möglicherweise durch Probleme bei der Geburt gefördert werden”, so Kawasaki.