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Gerechtigkeit, die Zähne zeigt

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Gerechtigkeit, die Zähne zeigt
Nur der Mensch kennt Recht und Moral? Von wegen! Auch Raben, Wölfe und Affen empören sich über Ungerechtigkeit – und setzen alles daran, dass es bei ihnen fair zugeht.

Es gibt kaum etwas, das Menschen so sehr in Rage versetzt, wie der Eindruck, ungerecht behandelt zu werden. Wir feiern unseren Gerechtigkeitssinn gerne als eine Errungenschaft der menschlichen Kultur, die uns über die Ich-Bezogenheit der Tiere erhebt. Doch es ist ein Fehler, unmoralisches und egoistisches Verhalten mit Schweinen und Wölfen zu assoziieren, während Tugenden wie Hilfsbereitschaft und Mitleid als Privileg des Humanen gelten: Mit systematischen Verhaltensbeobachtungen und Experimenten haben Forscher nachgewiesen, dass der Sinn für Fairness im Tierreich weite Kreise zieht. Das Gerechtigkeitsempfinden ist ein evolutionär gewachsenes Instrument, das sozial lebenden Tieren bei der Kooperation mit Gruppenmitgliedern hilft, ist die Anthropologin Sarah F. Brosnan von der Emory University in Atlanta überzeugt.

Was bei Tieren überrascht, erscheint bei Homo sapiens ganz normal: Viele Menschen wünschen sich, dass Privilegien fair und gerecht aufgeteilt werden. „Das zeigt sich an der Bereitschaft, Eigeninteressen zurückzustellen, um eine gerechtere Verteilung zu erreichen“, sagt der Psychologie-Professor Leo Montada von der Universität Trier. Er beruft sich dabei auf spielerische Experimente, bei denen die Probanden einen größeren Teil ihres erwirtschafteten Gewinns an ihre Mitspieler abtraten, als erforderlich war. Und sie nahmen erhebliche wirtschaftliche Nachteile in Kauf, um unfaires Verhalten abzustrafen. Manchmal rächten sie sich sogar an Mitspielern, deren einziges Versäumnis darin bestand, unsozialen Absahnern eins auszuwischen. Empörung über eine Ungerechtigkeit ist bei uns Menschen einer der wichtigsten Indikatoren für den Gerechtigkeitssinn, meint Leo Montada.

Dieser moralische Sinn erleichterte es unseren Vorfahren, produktive Beziehungen mit ihresgleichen einzugehen, glaubt Anthropologin Brosnan. Sie vermutet dahinter ein biologisches Programm, das in den Genen verankert ist: „Personen, die das Gefühl haben, ständig übervorteilt zu werden, können sich dadurch einem dankbareren Kooperationspartner zuwenden.“ Außerdem enthält der Gerechtigkeitssinn ein starkes Moment der Selbstverpflichtung: Ein rigides Streben nach Fairness signalisiert der Umwelt, dass der Betreffende sich nicht von kurzfristigem Profitinteresse, sondern von hehren Prinzipien leiten lässt, die ihn als soliden Genossen ausweisen.

Wenn der Gerechtigkeitssinn entstand, um unsere genetische Fitness zu steigern, ist er wahrscheinlich nicht erst mit dem Homo sapiens auf der Bildfläche der Evolution erschienen, folgert die Anthropologin. Vorläufer dieses moralischen Navigationssystems müssten sich dann schon bei sozial lebenden Tieren finden lassen. Viele Tierhalter berichten zwar von Hunden oder Pferden, die „eingeschnappt“ reagieren, wenn sie sich beim Verteilen von Leckerbissen zurückgesetzt fühlen. Aber solche Anekdoten genügen den methodischen Ansprüchen der Wissenschaft nicht.

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Die geistige Mindestvoraussetzung für den Gerechtigkeitssinn ist die Fähigkeit, zu erkennen, wenn eine Erwartung verletzt wird. Das ist bei Kleinkindern etwa ab dem sechsten Monat der Fall. Diesem Anspruch werden laut Brosnan aber auch alle möglichen Primaten gerecht. So veranstalten unsere haarigen Vettern ein regelrechtes Affentheater, wenn eine stets an einer bestimmten Stelle gefundene Delikatesse dort plötzlich fehlt. Dass Tiere auch auf Verletzungen moralischer Erwartungen reagieren, hat der Biologe Marc Bekoff von der University of Colorado in Boulder 2004 ausgerechnet bei den vermeintlich erbarmungslosen Wölfen festgestellt.

Außer der Begeisterung für raue Spiele hat die Natur den Hundeartigen einen starken Hang zum Fair Play eingeimpft. Jungtiere, die ihre Artgenossen zum Herumtollen auffordern, zeigen für gewöhnlich Signale von „Selbsthandikaping“: Sie bieten ihre Kehle dar oder bewegen sich torkelnd und ungelenk. Diese beschwichtigenden Gesten sind für die Vierbeiner eine moralische Norm, beobachtete Bekoff: „Spielverderber“ bekommen den Zorn der Meute zu spüren.

Bekoff fielen Tiere auf, die keine Beißhemmung hatten und ihre Mitspieler attackierten. Sie bekamen prompt die „gelbe“ und schließlich auch die „rote Karte“ gezeigt: Die Gefährten wählten sie nicht mehr als Spielpartner, verließen das Feld, sobald die Foulspieler dort aufkreuzten, oder stießen sie gar aus der Gemeinschaft aus. Die Verbannung aus der Meute hatte für die Missetäter einen Verlust der genetischen Fitness zur Folge, wie Bekoff bei seinen sieben Jahre langen Beobachtungen im Grand Teton National Park feststellte. Während von den Gruppenmitgliedern 20 Prozent im Untersuchungszeitraum starben, waren es bei den Ausgestoßenen 55 Prozent. Auch bei Menschen geht es nirgends so sehr um Fairness wie beim Spielen.

Weiter unten auf der Stufenleiter der Evolution, bei Raben, hat der Zoologe Bernd Heinrich von der University of Vermont in Burlington in den letzten Jahren Vorformen des Gerechtigkeitssinns ausgemacht. Raben gelten seit jeher als äußerst intelligente Tiere, von denen die Legende sagt, dass sie über bösartige Artgenossen Gericht halten oder gar die Todesstrafe an ihnen vollstrecken.

Darin steckt ein Körnchen Wahrheit: Raben respektieren Besitzansprüche. Artgenossen, die ein Stück Futter ergattert haben, werden nicht behelligt. Beobachtungen von Brosnan zeigten: Jedes Mal, wenn ein Rabe diese moralische Norm verletzte und Mundraub beging, sprang ein unbeteiligtes Gruppenmitglied dazwischen und versetzte dem Futterdieb einen Hieb mit dem Schnabel. „Bei den Raben hat die Erwartung von Fairness offenbar so großes Gewicht, dass sie am Täter Rache üben, selbst wenn sie selbst keinen Schaden erlitten haben“, urteilt Brosnan.

Unsere engsten Verwandten, die Primaten, werden wütend, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlen. Das demonstrierte Brosnan zusammen mit dem berühmten Primatenforscher Frans de Waal bei Experimenten an Kapuzineraffen und Schimpansen: Die Tiere bekamen beigebracht, in Zweiergruppen kleine Steine gegen Futter einzutauschen. Die Tiere konnten einander zwar sehen, aber nicht berühren. Erhielten beide für ihren Stein ein Stück Gurke, lief der Handel wie geschmiert. Doch wenn ein Tier eine viel beliebtere Traube bekam, während das andere weiterhin mit einer Gurkenscheibe abgespeist wurde, platzte dem gelackmeierten Affen der Kragen.

Viele Tiere verweigerten daraufhin die Mitarbeit: Sie rückten den Stein nicht heraus, lehnten die Gurkenscheibe ab oder nahmen die Gurkenscheibe an, ohne sie zu verspeisen. Manche Tiere schleuderten Spielstein und Gurkenscheibe aufgebracht aus dem Gehege. Besonders empört waren sie, wenn ihrem Gegenüber die Traube offensichtlich geschenkt wurde: Dann streikten sie bei gut 80 Prozent der Versuche.

Diese Beobachtungen zeigen, dass für Affen der Wert einer Belohnung relativ ist: Er ergibt sich erst aus dem Vergleich mit anderen möglichen Belohnungen und dem Arbeitsaufwand, der dafür nötig ist. „Empörung entsteht aus der Wahrnehmung der Ungerechtigkeit und gehört damit zu den emotionalen Fundamenten der Moral“, erklärt Frans de Waal. „Obwohl das Gefühl für Gerechtigkeit bei den Menschen zweifellos höher entwickelt ist als bei Tieren, gibt es doch eine gemeinsame Grundlage.“

Affen und Menschen scheinen denselben „moralischen Balken“ im Auge zu haben: Nach sozialpsychologischen Beobachtungen finden Menschen eine Benachteiligung viel ungerechter als eine Bevorzugung. Auch die Affen in Brosnans Experimenten legten zweierlei Maß an. Kein Affe beschwerte sich über eine unfair hohe Belohnung oder bot seinem Gegenüber etwas davon an. „Es kam sogar vor, dass ein Affe genüsslich seine Traube verzehrte und sich dann bückte, um sich das Stück Gurke zu genehmigen, das der benachteiligte Kompagnon verärgert fallen gelassen hatte“, berichtet Brosnan. Wie bei ihren nächsten Verwandten, hört auch bei Affen die Gerechtigkeit auf, wenn es um den eigenen Vorteil geht. ■

Rolf Degen

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