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Kleber mit Köpfchen

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Kleber mit Köpfchen
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Gliazellen haben mehr Aufgaben als gedacht und sind vermutlich mitverantwortlich für die Intelligenz. Bild: Wikipedia
Gliazellen, neben den Nervenzellen die häufigste Zellsorte im Gehirn, galten lange als reine Stütz- und Versorgungseinheiten für die Neuronen. Mittlerweile kristallisiert sich jedoch heraus: Die Gliazellen sind nicht nur an höheren Denkprozessen beteiligt, sie koordinieren sie in vielen Fällen sogar. Forscher versuchen daher verstärkt, die Gliazellkommunikation zu entschlüsseln, um zum einen die Funktionsweise des Gehirns besser zu verstehen und zum anderen neue Einblicke in die Entstehung von Krankheiten wie Epilepsie, Alzheimer und Schizophrenie zu erhalten.

Sie durchziehen das ganze Gehirn und leben in engster Nachbarschaft mit den Nervenzellen – die Gliazellen. Trotzdem führten sie viele Jahre ein Schattendasein: Während die Neuronen zu Superstars wurden, denen die Hirnforscher das Verdienst für alles vom Fühlen über das Denken bis zum Handeln zuschrieben, galten die Gliazellen als reine Kittsubstanz, die die Nervenzellen zusammenhält, sie stützt und für deren Versorgung zuständig ist.

Doch so langsam treten die vermeintlichen Stützzellen aus dem Schatten ihrer Nachbarn, berichtet das Magazin „bild der wissenschaft“ in seiner September-Ausgabe. Mehr noch: „Gliazellen sind keineswegs nur Statisten im Gehirn, sondern ganz zentrale Akteure“, betont Christian Steinhäuser, Leiter des Instituts für Zelluläre Neurowissenschaften an der Universität Bonn. Er beschäftigt sich vor allem mit den Astrozyten , sternförmigen Hirnzellen, die mit 80 Prozent die häufigste Unterart der Gliazellen darstellen. Dass deren entscheidende Rolle im Gehirn so lange übersehen wurde, liegt wohl nicht zuletzt an einer Art Übersetzungsproblem: Gliazellen sprechen nämlich sozusagen eine andere Sprache als Neuronen.

Denn während Nervenzellen vor allem elektrische Impulse benutzen, kommunizieren Astrozyten ausschließlich über biochemische Signale, genauer gesagt, über Schwankungen der Konzentration an geladenen Kalziumteilchen in ihrem Inneren. Diese Veränderungen wandern wie bei einer La-Ola-Welle im Fußballstadion von Zelle zu Zelle und erreichen so auch Astrozyten, die sich in einem weit entfernten Teil des Glianetzwerkes befinden.

Der Clou dabei: Die Gliazellen unterhalten sich nicht nur untereinander, sie übersetzen ihre Botschaften auch für die Nervenzellen. Steigt der Kalziumspiegel in einem Astrozyten an, setzt er den Botenstoff Glutamat frei – einen Neurotransmitter, den auch die Nervenzellen für die Signalweiterleitung nutzen. Ebenfalls mit Hilfe von Glutamat erhalten umgekehrt auch die Gliazellen Informationen von den Neuronen. Dabei scheinen sie zumindest manchmal sogar die Funktion eines Dirigenten zu erfüllen: „Sie hören den Neuronen nicht nur zu, sie sprechen auch mit ihnen und erteilen ihnen Anweisungen“, erklärt der US-Hirnforscher Phil Haydon.

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Was die Zellen sich genau mitzuteilen haben, ist bislang zwar noch unbekannt. Einem der Hauptzwecke des Palavers sind die Wissenschaftler jedoch bereits auf der Spur: Die Gliazellen scheinen dafür zu sorgen, dass ganze Gruppen von Nervenzellen ihre Aktivitäten gleichschalten und synchron Impulse abgeben – ein Verhalten, das Neurowissenschaftler geradezu elektrisiert. Denn die Synchronisierung von Nervenimpulsen gilt als Basis höherer kognitiver Leistungen wie Lernen, Erinnern und sogar des bewussten Denkens.

Veranschaulichen lässt sich das am Beispiel von jemandem, der im Restaurant eine Tasse Kaffee trinkt, schreibt „bild der wissenschaft“: Das Gefühl der glatten Tassenoberfläche, die dunkle Farbe des Heißgetränks, der Duft der Bohnen, der bittere Geschmack auf der Zunge – all diese Sinneseindrücke werden in unterschiedlichen Gehirnarealen registriert und verarbeitet. Um aber den Gesamteindruck „Kaffeegenuss“ entstehen zu lassen, müssen diese Einzelteile zusammengeführt werden. Das geschieht, indem die Neuronen in den beteiligten Bereichen – wahrscheinlich unter dem Kommando und gesteuert von den Gliazellen – ihre Aktivität synchronisieren.

Phil Haydon traut den Astrozyten sogar noch mehr zu: Er und noch eine ganze Reihe anderer Hirnforscher vermuten, dass die Gliazellen mitentscheiden, wie intelligent ein Lebewesen ist. Denn je höher entwickelt ein Tier ist, desto mehr Astrozyten kommen auf eine Nervenzelle. So sind es beim Wurm lediglich 0,17 pro Nervenzelle, beim Frosch immerhin 0,5 und Katzen besitzen etwa gleich viele Neuronen und Astrozyten. Der Durchschnittsmensch verfügt über nahezu doppelt so viele Glia- wie Nervenzellen und beim Spitzenreiter, dem Delfin, kommen auf jedes Neuron drei Astrozyten. Ob sich diese These halten lässt, will Haydon jetzt experimentell prüfen.

Der große Einfluss der Gliazellen hat allerdings auch Schattenseiten: Wenn etwa die Astrozyten so wichtig für die Gehirnfunktion sind, macht sie das gleichzeitig zu Hauptverdächtigen bei der Suche nach den Auslösern verschiedener Krankheiten – Depressionen, Alzheimer, psychiatrischen Störungen wie Phobien und Schizophrenie sowie neuropathischen Schmerzen. In den meisten Fällen haben Wissenschaftler bereits deutliche Hinweise auf eine Beteiligung oder sogar eine Schlüsselrolle der Gliazellen gefunden.

Besonders naheliegend erscheint jedoch ihre Beteiligung an der Entstehung von Epilepsie, einer Krankheit, die durch das spontane gleichzeitige Feuern aller Neuronen eines Hirnbereichs gekennzeichnet ist. „Trotz äußerst bescheidener Fortschritte in den letzten Jahren beschäftigt sich die Epilepsieforschung nach wie vor fast ausschließlich mit den Nervenzellen“, bedauert Christian Steinhäuser. Seine Empfehlung lautet daher, die Gliazellen stärker in den Fokus zu nehmen, ein Rat, den er künftig auch selbst im Rahmen eines großen EU-Verbundprojektes befolgen wird.

Ulrich Kraft: „Neue Stars am Hirnforscherhimmel“ bild der wissenschaft 9/2008, S. 20 ddp/wissenschaft.de – Ilka Lehnen-Beyel
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