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Kultureller Fortschritt bei Kohlmeisen

Erde|Umwelt

Kultureller Fortschritt bei Kohlmeisen
Kohlmeise
Kohlmeise beim Lösen der Aufgabe. (Bild: Michael Chimento)

Nicht nur der Mensch und viele Säugetiere entwickeln kulturelle Traditionen, auch Vögel lernen voneinander. Jetzt belegt ein Experiment mit Kohlmeisen, dass sie die einmal etablierten Verhaltensweise auch nachträglich noch verändern und anpassen können. Angetrieben wird dieser kulturelle Fortschritt dabei in besonderer Weise durch Zugewanderte – Tiere, die einen noch frischen Blick für mögliche Problemlösungen besitzen.

Indem wir soziales Verhalten von unseren Mitmenschen lernen, bildet sich unsere Kultur. Und das können auch Tiere: So zeigen zum Beispiel die uns verwandten Schimpansen menschenähnliche Rituale, die sich zwischen getrennt lebenden Gruppen unterschieden. Auch bei Walen und Delfinen, Nagetieren und Vögeln sind Verhaltensweisen bekannt, die innerhalb einer Population von Generation zu Generation weitergegeben werden.

So beispielsweise auch bei Kohlmeisen in einer britischen Stadt, die lernten, Verschlussfolien von Milchflaschen zu öffnen, um an die darunterliegende Rahmschicht zu kommen. Im Laufe von 20 Jahren breitete sich dieser „Trick“ unter den Kohlmeisen in ganz Großbritanien aus. Andere Experimente bestätigten, dass Kohlmeisen kulturelle Traditionen aufgreifen und dann aufrechterhalten: Wurde einzelnen Tieren eine neue Verhaltensweise beigebracht, wurde sie von anderen, untrainierten Vögeln aufgegriffen und verbreitete sich nach und nach innerhalb der untersuchten Populationen.

Können Meisen ihr kulturelles Verhalten verändern?

Ob Tiere aber solche kulturellen Traditionen auch nachträglich verändern und weiterentwickeln können, war bisher unbekannt. Deshalb haben das nun Wissenschaftler um Michael Chimento vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in einem Experiment mit Kohlmeisen geprüft. Die Forschenden testeten dabei, ob und wie im Labor gehaltene Kohlmeisen-Populationen ein sozial erlerntes Nahrungssuchverhalten ändern, wenn wildlebende Tiere zuwandern. Denn da wildlebende Kohlmeisen im Winter bei rauen Umweltbedingungen in veränderlichen sozialen Verbänden leben, vermuteten die Forscher, dass Zuwanderung eine Rolle bei der Veränderung von Verhaltensweisen spielen könnte. „Aufgrund ihrer mangelnden Erfahrungen mit den kulturellen Traditionen der Gruppe könnten zugewanderte Artgenossen einen unvoreingenommeneren Blick auf mögliche Lösungen für bestehende Probleme haben und dadurch den kulturellen Wandel innerhalb der Gruppe beeinflussen“, erläutert Chimento.

Für ihr Experiment bildete das Team 18 Vogelgruppen mit je sechs Tieren, von denen jedes Zugang zu einer Rätselbox mit Futterbelohnung hatte. Sobald ein Vogel eine Tür drückte und damit an das Futter gelangte, wurden mithilfe eines RFID-Senders und Infrarot-Technologie sowie computergestützter Bildverarbeitung die Identität des Tieres, die Art der Lösung und die benötigte Lösungsdauer erfasst. Jede Vogelgruppe hatte dabei einen „Tutor“, dem eine vergleichsweise ineffiziente Lösung des Rätsels antrainiert wurde, welche sich dann in der Gruppe verbreitete. Anschließend tauschten die Forscher in der Hälfte der Gruppen über einen Zeitraum von vier Wochen nach und nach zwei Gruppenmitglieder durch neue Wildfänge aus Wäldern rund um Konstanz aus und beobachteten im Anschluss, auf welche Art und wie schnell die Vogelgruppen im Gegensatz zu den Vergleichstieren das Rätsel lösten.

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Angepasste Lösungen

Es zeigte sich: In den Vogelgruppen scheint tatsächliche eine kulturelle Weiterentwicklung durch die zugewanderten Kohlmeisen stattgefunden zu haben. Zwar entwickelten 17 der 18 Gruppen im Laufe des Experiments eine effizientere statt der zuvor erlernten Lösung für die Rätselaufgabe. Jedoch war die Wahrscheinlichkeit, die effektivere Methode als bevorzugtes Verhalten längerfristig zu übernehmen, in den Populationen mit den neuen Kohlmeisen deutlich höher. Dabei beobachtete das Forscherteam, dass die ursprünglichen Gruppenmitglieder, die bereits mit der Rätselaufgabe vertraut waren, in der Regel zwar die verbesserte Lösung für die Aufgabe entwickelten, diese jedoch nicht als ihre bevorzugte Lösung annahmen. Stattdessen nahmen vor allem die unerfahrenen Zuzügler sie als neues Verhalten auf.

„Die Einwanderer wählten neue, effiziente Verhaltensweisen im Verhältnis zu den verfügbaren sozialen Informationen überproportional häufig aus“, so das Forscherteam. Dadurch verbreiteten die Zuwanderer die effektivere Verhaltensweise und ihre Gruppe konnten am Ende die Rätselaufgabe schneller lösen als die Vergleichsgruppen, obwohl sie insgesamt weniger Erfahrung hatten. Letztere nutzten so lediglich rund 1.500-mal die effiziente Lösung, die Gruppen mit den Einwanderern hingegen ungefähr 40.000-mal und benötigten für die Rätselaufgabe 30 Millisekunden weniger.

Einwanderung als Triebkraft

Die Veränderung in der Zusammensetzung der Population, der sogenannte „population turnover“, scheint also entscheidend für eine Veränderung bestehender Traditionen bei Tieren zu sein, folgern Chimento und seine Kollegen. Die Zuwanderung der wilden Kohlmeisen ist laut der Wissenschaftler die Triebkraft für die kulturelle Weiterentwicklung. „Experimentelle Beweise für kulturellen Wandel bei Tieren sind sehr selten“, sagt Chimento. „Wir waren daher von den Ergebnissen unserer Studie überrascht und begeistert.“ Und der kulturelle Wandel der Meisen bringt offenbar einen Überlebensvorteil: „Kohlmeisen scheinen im Vergleich zu anderen Arten gut in vom Menschen geschaffenen Lebensräumen zurechtzukommen“, resümiert der Erstautor. „Unsere Studie zeigt, wie ihre veränderlichen sozialen Dynamiken Teil ihres Erfolgsgeheimnisses sein und zu ihrer Anpassungsfähigkeit beitragen könnten.“

Vermutlich könnte der „population turnover“ ein allgemeiner Mechanismus zur Evolution von Kultur in der Tierwelt sein und ist möglicherweise auch ein Vorläufer des menschlichen Kultursystems, vermuten die Forscher. In künftigen Studien wollen sie untersuchen, ob eingewanderte Individuen auch selbst innovativ sein können und effizientere Verhaltensweisen an die bestehende Gruppe weitergeben können.

Quelle: Universität Konstanz, Fachartikel: Current Biology, doi: 10.1016/j.cub.2021.03.057

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