Im zweiten Experiment analysierten die Forscher die Augenstellung von 123 bekannten Malern und Bildhauern und verglichen diese mit 129 Mitgliedern des US-Kongresses. Dazu verwendeten sie Porträtaufnahmen, aus denen sie die Augen ausschnitten, so dass keine Rückschlüsse auf die Person mehr möglich waren. Zwei Experten beurteilten dann, ob die Pupillen beider Augen die gleiche Ausrichtung hatten oder ob ein leichtes Schielen vorlag. Letzteres geht praktisch immer mit einem Defizit beim dreidimensionalen Sehen einher.
Die erste Untersuchung zeigte deutlich, dass die Kunststudenten ein schlechteres räumliches Sehen besaßen als die Studenten der Kontrollgruppe. Die zweite Studie bestätigte diesen Trend: Bei den erfolgreichen Künstler war häufiger ein leichtes Schielen zu beobachten als bei den Personen der Vergleichsgruppe. “Unsere Ergebnisse machen deutlich, dass Künstler ein geringer ausgeprägtes dreidimensionales Sehen haben als die Durchschnittsbevölkerung”, schreiben die Autoren. “Allerdings ist Schielen keine notwendige Voraussetzung, um als Künstler erfolgreich zu sein. Viele der untersuchten Maler und Bildhauer zeigen überhaupt keine Abweichung beider Pupillen.”
Eine schlechtere räumliche Wahrnehmung könnte für einen Künstler jedoch von Vorteil sein. So werden Maler während ihrer Ausbildung häufig angewiesen, ein Auge zu schließen und dadurch indirekte Merkmale für räumliche Tiefe wie Schatten oder perspektivische Veränderungen genauer wahrzunehmen. “Eine geringer ausgeprägte Tiefenwahrnehmung könnte solche Merkmale hervortreten lassen und damit für einen Künstler von Vorteil sein”, spekuliert Livingstone.