Auch andere Hinweise deuten auf eine gegenseitige Beeinflussung von Sprache und Mathematik hin. So gibt es beispielsweise große Parallelen zwischen grammatikalischen und mathematischen Strukturen: Der Aufbau eines Satzes mit eingeschobenem Nebensatz wie „Der Mann, der den Löwen tötete, war wütend“ ähnelt beispielsweise einer Rechenaufgabe mit einer Klammer wie 5 x (6 + 2) ? 3. Hirnforscher vermuten daher, dass das Lernen von Grammatik den Entwurf eines Denkmusters bereitstellt, mit dessen Hilfe auch die grundlegenden mathematischen Mechanismen erfasst werden können. Nach dieser Theorie wären mathematische Berechnungen unbedingt auf die Sprachressourcen des Gehirns angewiesen.
Dem widersprechen nun allerdings die Ergebnisse von Varley und ihren Kollegen. Die Forscher ließen ihre Probanden, bei denen große Teile des Sprachzentrums im Gehirn zerstört waren, Sprach- und Mathematiktests durchführen. Obwohl die Männer beispielsweise den Unterschied zwischen den Sätzen „Der Mann tötet den Löwen“ und „Der Löwe tötet den Mann“ nicht verstehen konnten, hatten sie keine Schwierigkeiten, die entsprechenden Rechenaufgaben 7 ? 5 und 5 ? 7 voneinander zu unterscheiden. Insgesamt schnitten die Probanden bei den Rechenaufgaben sehr gut ab.
Eine Codierung mathematischer Zusammenhänge durch Wörter könne demnach ausgeschlossen werden, schreiben die Forscher. Möglicherweise haben Mathematik und Sprache eine gemeinsame Basis, auf die beide unabhängig voneinander zugreifen können, ohne dass die Zahlen in ein Sprachformat umgewandelt werden müssen. Bei Patienten mit Sprachstörungen wäre dann die Verbindung von Sprache und Basis getrennt, während der mathematische Teil noch Zugriff hätte. Eine andere Möglichkeit wäre, dass Sprache und Mathematik während der Hirnentwicklung zwar auf dem gleichen Weg entstehen, im fertigen Gehirn jedoch unabhängig voneinander existieren.