Im ersten Lebensjahr eines Kindes werden entscheidende Weichen für seine spätere Entwicklung und Persönlichkeit gestellt. Während sich in seinem Gehirn neue Verknüpfungen bilden, lernt es vor allem durch den engen Kontakt mit seinen Eltern. Aber ist das genug? Angesichts der enormen Anforderungen in der heutigen Gesellschaft haben viele Eltern Angst, ihrem Kind nicht genügend Anregungen zu bieten. Unter anderem deshalb gibt es inzwischen immer mehr Angebote zur Frühförderung von Kindern – von Babymassage und Babyschwimmen über PeKiP-Gruppen bis hin zu Babysprachkursen und Musik für Säuglinge. Vor allem in den USA werden solche Angebote von jungen Eltern zunehmend angenommen. „Die kognitive Stimulation der Säuglinge durch bestimmte Spielzeuge, Vorlesen und anderes, ist hier sehr stark ausgeprägt“, berichtet Koautorin Maria Gartstein von der Washington State University in Seattle. In einigen europäischen Ländern wie den Niederlanden ist dies dagegen weniger ausgeprägt.
Gibt es kulturelle Unterschiede?
Um herauszufinden, wie sich solche Unterschiede auf die Entwicklung und das Verhalten von Säuglingen auswirken, führten Gartstein und ihre Kollegen eine Vergleichsstudie mit jungen Familien in den USA und den Niederlanden durch. Sie befragten dafür jeweils mehr als hundert Eltern von sechs oder zwölf Monate alten Kindern in beiden Ländern nach ihren Aktivitäten mit dem Kind und dem Tagesablauf. Zudem baten sie die Eltern, das Verhalten ihrer Kinder nach einem standardisierten Fragebogen zu charakterisieren. Dafür notierten sie über einen gewissen Zeitraum, wie häufig ihre Kinder 191 verschiedene Verhaltensweisen zeigen. Anhand dieser Daten bewerteten die Forscher die Persönlichkeit und das Verhalten der Säuglinge in Bezug auf 14 Grundeigenschaften.
Tatsächlich zeigten sich klare Unterschiede bei den Säuglingen beider Länder: Die US-Kinder waren aktiver und reagierten stärker auf Reize als ihre niederländischen Altersgenossen. Dafür aber waren sie auch häufiger ängstlich, frustriert, traurig und brauchten länger, bis sie sich nach dem Schreien oder nach Stress wieder beruhigten, wie die Forscher berichten. Sie führen dies zum Teil darauf zurück, dass diese Kinder schon in den ersten Lebensmonaten mehr Reizen ausgesetzt wurden und daher möglicherweise unruhiger sind. Die niederländischen Säuglinge zeigten dagegen im Alltag häufiger Indikatoren für Zufriedenheit und waren leichter und schneller zu beruhigen, wenn sie sich aufgeregt hatten.
Mehr Gelassenheit
Nach Ansicht von Gartstein und ihren Kollegen spiegelt die größere Zufriedenheit und Gelassenheit der niederländischen Kinder möglicherweise die andere Kultur im Umgang mit Säuglingen wider. „Für niederländische Eltern sind zwei Dinge besonders wichtig: Ihre Kinder nicht überzustimulieren und von Beginn an regelmäßige Zeiten für den Schlaf einzuhalten“, erklärt Gartstein. So wählen die Eltern die Zeiten für Besuchseinladungen von Freunden oder Familie meist so, dass der Schlafrhythmus der Kinder nicht gestört wird. „Mir fiel auch auf, dass die niederländische Eltern im Umgang mit ihren Kindern sehr viel weniger Spielzeug nutzten als die US-Eltern“, so Gartstein.
Solche kulturellen Unterschiede im Umgang mit Säuglingen sind für Entwicklungspsychologen ein spannendes Thema. Denn möglicherweise helfen sie dabei, herauszufinden, welche Faktoren später die Persönlichkeit eines Menschen prägen. Gleichzeitig können die bei solchen Studien gesammelten Erkenntnissen auch Aufschluss darüber geben, was und in welchem Maße einem Säugling wirklich gut tut und ihn optimal für sein späteres Leben vorbereitet. Im nächsten Schritt wollen die Forscher nun auch Säuglinge und Erziehungsmethoden weiterer Länder vergleichen. Eine Studie mit deutschen Säuglingen ist bereits in Vorbereitung.