In diesem Modell spielt die RNA lediglich die Rolle eines Botschafters, der die Informationen von der DNA überbringt. Bereits Ende der 1960er Jahre begannen Wissenschaftler jedoch zu erkennen, dass die Aufgaben der Ribonukleinsäuremoleküle in der Zelle sehr viel umfangreicher sind. So dient die RNA unter anderem als Adapter zwischen Nukleinsäuremolekülen und Aminosäuren und kann in Zusammenarbeit mit Proteinen sogar als Katalysator fungieren. In den frühen 1980er Jahren zeigte sich schließlich, dass kleine RNA-Moleküle im Darmbakterium E. coli auch an der Regulation der Genaktivität beteiligt sind: Finden sie eine mRNA mit einer Basenabfolge, die genau das Gegenstück ihrer eigenen ist, docken sie dort an und verhindern so, dass die Informationen auf der mRNA in ein Protein umgesetzt werden.
Doch dieser Mechanismus konnte bestimmte Effekte nicht erklären, die Wissenschaftler bei verschiedenen Genmanipulationen beobachtet hatten. Besonders merkwürdig war in diesem Zusammenhang die Entdeckung einiger Pflanzengenetiker: Sie hatten mit der Absicht, die Blütenfarbe zu intensivieren, ein Gen für ein rotes Pigment in Petunien eingefügt ? mit dem unerwarteten Ergebnis, dass die veränderten Blüten überhaupt keine Farbe mehr besaßen. Zwar war schnell klar, dass auch bei dieser “Gene Silencing” getauften Stilllegung von Genen die RNA eine Schlüsselrolle spielen muss. Wie diese genau aussieht, blieb jedoch unklar. Erst die nun ausgezeichnete Arbeit von Fire und Mello, die sie im Jahr 1998 im Fachmagazin “Nature” veröffentlichten, brachte Licht ins Dunkel: Indem sie einigen Würmern verschiedene RNA-Varianten injizierten, entdeckten sie, dass bei höheren Organismen im Gegensatz zum E. coli-Modell eine doppelsträngige RNA für den Inaktivierungseffekt sorgt ? ein System, das sie RNA-Interferenz nannten. Dabei reichten schon wenige Moleküle aus, um den Effekt auszulösen.
In den darauf folgenden Jahren konnte dann auch der genaue Mechanismus aufgeklärt werden: In der Zelle beziehungsweise dem Zellplasma angekommen, dockt die doppelsträngige RNA an einen Proteinkomplex namens Dicer an, der sie anschließend in kleinere Stückchen zerlegt. Ein anderer Proteinkomplex, genannt RISC, greift dann diese Fragmente auf und beseitigt einen der beiden Stränge. Der übriggebliebene Teil des RNA-Moleküls dient schließlich als eine Art Sonde zum Aufspüren von unerwünschten mRNAs: Trifft er auf eine mRNA mit der passenden Sequenz, wird diese festgehalten und vom RISC-Komplex zersetzt. So wird verhindert, dass die genetische Information der entsprechenden mRNA umgesetzt wird ? das Gen ist also faktisch stillgelegt.
In der Natur wird dieses System für verschiedene Zwecke genutzt. Einer der wichtigsten: der Schutz vor RNA-Viren. Solche Erreger besitzen als Erbsubstanz nicht DNA, sondern eine doppelsträngige RNA. Dringt diese in eine Zelle ein, kann der Organismus den unerwünschten Eindringling mithilfe der RNA-Interferenz leicht entdecken und ausschalten. Außerdem unterdrückt RNAi so genannte Transposons oder springende Gene, die bei unbeschränkter Aktivität auf Dauer das Genom instabil machen würden, und sorgt für die korrekte Verpackung der DNA im Zellkern. Viele Wissenschaftler halten die RNA-Interferenz außerdem für einen vielversprechenden Ansatz für neue Gentherapien, bei denen defekte Gene künstlich stillgelegt werden können.