Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Paradoxer Schmerz-Effekt

Erde|Umwelt Gesundheit|Medizin

Paradoxer Schmerz-Effekt
16-05-31-painkiller.jpg
Opioid-Schmerzmittel können chronische Schmerzen offenbar sogar fördern (Foto: University of Colorado)
Wer unter starken Nervenschmerzen leidet, dem helfen oft nur opioidhaltige Schmerzmittel. Doch wie sich jetzt zeigt, lindern diese Mittel zwar kurzfristig die Schmerzintensität, könnten dafür aber die Entstehung chronischer Schmerzen sogar begünstigen. In Versuchen mit Ratten führte eine Behandlung mit Opioiden dazu, dass Schmerzen nach einer Ischiasverletzung doppelt so lange anhielten. Gleichzeitig löste die Behandlung Veränderungen in Nervenzellen des Rückenmarks aus, die deren Sensibilität gegenüber Schmerzreizen stark erhöhten.

Ob am Rücken, in den Gliedmaßen oder anderswo: Mehr als eine Million Menschen allein in Deutschland wird von chronischen Schmerzen geplagt. Häufig jedoch ist der eigentliche Grund für diese Schmerzen – beispielsweise eine Nervenverletzung oder eine Entzündung – längst ausgeheilt. Doch die einst dadurch verursachten Schmerzen bleiben. Der Grund dafür ist das sogenannte Schmerzgedächtnis. Unter bestimmten Umständen kann ein anhaltendes starkes Bombardement mit Schmerzreizen dazu führen, dass sich die Aktivität von Zellen des Rückenmarks und des peripheren Nervensystems tiefgreifend verändert. Als Folge produzieren sie Botenstoffe, die in Kombination mit bestimmten Immunzellen ein Fortbestehen des Schmerzes signalisieren – und uns zudem noch empfindlicher für weitere Reize der ehemals geschädigten Areale machen. Wie dieses Schmerzgedächtnis im Einzelnen ausgelöst wird und warum, ist bisher nur in Teilen verstanden.

Mehr Schmerz statt weniger

Peter Grace von der University of Colorado in Boulder und seine Kollegen haben nun untersucht, welchen Einfluss die Behandlung mit dem Opioid Morphin auf den Verlauf neuropathischer Schmerzen bei Ratten hat. Dafür reizten sie in einem chirurgischen Eingriff unter Narkose den Ischiasnerv von Ratten durch Einengung und lösten so Nervenschmerzen aus. Einige der Tiere erhielt danach fünf Tage lang zweimal täglich eine Infusion von Morphin, die anderen bekamen nur eine Salzlösung. Anschließend testeten die Forscher regelmäßig mit Hilfe verschiedener Reiztests, wie lange die Schmerzen der Ratten anhielten und wie sensibel ihr Ischiasnerv auf eigentlich nichtschmerzhafte Reize reagiert. Das Ergebnis: Entgegen den gängigen Erwartungen half das Morphin langfristig nicht gegen die Schmerzen – im Gegenteil. Die Ratten, die das Opioid bekommen hatten, litten doppelt so lange an Schmerzen wie ihre Artgenossen aus der Kontrollgruppe, die nur eine Salzlösung bekommen hatten. Noch Monate später zeigten die Tiere Anzeichen für eine verstärkte Sensibilität und Schmerzen, wie die Forscher feststellten.

Nähere Untersuchungen enthüllten, dass dieser scheinbar paradoxe Effekt unabhängig von den für die schmerzhemmende Wirkung des Morphins verantwortlichen Opioid-Rezeptoren stattfindet. Stattdessen spielen dafür spezielle Zellen im Rückenmark, die sogenannten Mikroglia-Zellen eine Rolle. Normalerweise werden diese Zellen durch das erste Schmerzsignal aktiviert und in eine Art “Wachsamkeitsmodus” versetzt, wie die Forscher erklären. Auf weitere Reize hin senden sie Botenstoffe aus, die Immunzellen anziehen und Entzündungen fördern können. Wie die Forscher beobachteten, wirkte die Opioid-Behandlung für die Gliazellen der Ratten wie eine Art Turbo: Die Mikroglia wurden überaktiv und schütteten große Mengen von Signalstoffen aus. Dies wiederum führte dazu, dass die schmerzleitenden Nervenzellen des Rückenmarks ihrerseits ihre Aktivität erhöhten und dadurch übersensibel auf Schmerzreize reagierten. “Das ist, als wenn man einen Dimmschalter am Rückenmark voll aufdreht”, erklärt Grace. “Der Doppelschlag von Schmerzreizen und Opioidwirkung lässt erst die Gliazellen und dann die Schmerzneuronen wildwerden.”

Nach Ansicht der Forscher belegt dies, dass im Falle von neuropathischen Schmerzen Opioid-Schmerzmittel das Problem verstärken statt es zu beseitigen. “Wir belegen zum ersten Mal, dass selbst eine kurze Anwendung von Opioiden Langzeit-Auswirkungen auf den Schmerz haben kann”, sagt Grace. “Das ist eine hässliche Seite der Opioide, die wir zuvor nicht kannten.” Die Ergebnisse legen nahe, dass die Behandlung mit opioidhaltigen Schmerzmitteln die Chronifizierung von Nervenschmerzen sogar fördern kann, statt sie zu verhindern. Noch ist diese negative Wirkung nur für Ratten belegt, die Forscher vermuten aber, dass dieser Effekt auch beim Menschen in ähnlicher Form auftritt. “Unsere Studie spricht dafür, dass verlängerte Schmerzen eine bisher unerkannte und klinisch relevante Konsequenz der starken Nutzung von Opioiden bei chronischen Schmerzen sind”, konstatieren die Wissenschaftler.

Anzeige

Quelle:

© wissenschaft.de – Nadja Podbregar
Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

Feld|ort  〈m. 2u; Bgb.〉 Ende eines Stollens

Vier|tel  〈[fir–] n. 13; schweiz. auch: m. 5〉 1 vierter Teil 2 Stadtteil (Stadt~) … mehr

Him|mels|kun|de  〈f. 19; unz.〉 = Astronomie

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige