Vier Millionen Menschen leiden in Deutschland unter einer so heftigen Depression, dass sie ärztlich behandelt werden müssen. Die meisten Selbstmorde gehen auf das Konto einer solchen psychischen Störung. Nach einer aktuellen Hochrechnung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) werden die Depressionen in 15 Jahren weltweit – nach Herz-Kreislauf-Leiden – an zweiter Stelle der lebensverkürzenden Krankheiten stehen.
Nun behaupten einige Wissenschaftler, diese psychische Erkrankung habe durchaus ihre positiven Seiten. Urheber der provozierenden These ist Edward Hagen vom Institut für Theoretische Biologie an der Berliner Humboldt-Universität. Seiner Meinung nach erfüllt eine Depression eine wichtige Funktion: Sie erzwingt soziale Unterstützung.
„Trotz negativer Gefühle gegenüber Depressiven sind Partner, Familie und Bekannte bereit, ihnen Fürsorge, Hilfe, Rat und andere Formen der Unterstützung zukommen zu lassen“, argumentiert Hagen. Auch der Biologe Paul Watson von der University of New Mexico und der Psychiater Andy Thomson von der University of Virginia vertreten diese Auffassung. Sie sehen in Depressionen eine entwicklungsgeschichtlich alte und durchaus probate Strategie „schwacher“ Personen, ihre soziale Gruppe für sich einzunehmen.
Wie Depressionen in der Frühzeit des Menschen Überlebensvorteile brachten, erklärt der Berliner Wissenschaftler am Beispiel einer von ihrem Partner verlassenen Mutter. Verfiel sie in depressive Zustände, signalisierte das: Hier braucht jemand dringend Hilfe. Das sicherte ihr die Unterstützung der Sippe, da das allgemeine Aggressionsniveau in der Gruppe gegenüber Depressiven sinkt.
Hagen betrachtet die psychische Erkrankung deshalb als sinnvolle Anpassung an veränderte Bedingungen. „Die Fähigkeit, deprimiert sein zu können, hilft, schwierige soziale Situationen zu bewältigen.“ Diese Sicht würde erklären, warum die seelische Störung nicht von der Evolution aus unserem psychischen Repertoire „herausgemendelt“ wurde.
Hagen versucht, seine These empirisch zu untermauern. In einer Studie über die „postpartale Depression“ nach der Geburt eines Kindes bei 240 jungen Müttern und Vätern fand er heraus: Der völlige Verlust an Interesse und an Fürsorge für das Kind bei einem Elternteil führt in der Regel dazu, dass sich der Partner stärker engagiert. Dieser Zusammenhang wurde vor allem bei depressiven Müttern deutlich, die so ein stärkeres Engagement der Väter erzwangen.
Auch bei anderen Formen der Depression, folgert der Biologe, funktioniert das anhaltende Stimmungstief wie ein Arbeitsstreik, der dazu führt, dass die Aufgabenverteilung neu verhandelt wird. So werde die Balance der Gegenseitigkeit in einer sozialen Gruppe wieder hergestellt – und zwar im Interesse der Depressiven.
Der Berliner Wissenschaftler fordert deshalb zum Umdenken auf: Depressionen sollten nicht allein als schwerwiegende Erkrankungen angesehen werden, die möglichst rasch geheilt werden müssten. Eine Therapie mit Psychopharmaka allein sei keine Lösung, selbst wenn sie die quälenden Symptome lindert. Vielmehr sollten Psychiater verstärkt nach den sozialen Konflikten fahnden, die ihren Patienten das Leben schwer machen: „Depression ist eine Art Fieber. Sie signalisiert, dass eine tiefer gehende Heilung nötig ist.“ ■
Eva Tenzer