„Die mentale Retardierung ist eines der großen ungelösten Rätsel der Genetik“, sagt Reis. Einerseits sind die Ursachen noch nicht vollständig aufgeklärt. Andererseits tritt die Erkrankung ebenso vielfältig wie unergründlich in Erscheinung. Manche Kinder können nicht sprechen und sitzen, andere durchaus. Bei einigen fällt die Störung schon bei der Geburt auf, bei anderen wird sie erst im Kleinkindalter bemerkt.
Mehrere deutsche Forscher im Netzwerk mentale Retardierung haben nun begonnen, Licht ins Dunkel zu bringen. Das Erbgut von 3000 betroffenen Kindern wird dafür nach Auffälligkeiten durchforstet. Denn in der Mehrzahl der Fälle liegt der Behinderung ein genetischer Defekt zugrunde. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert das Vorhaben mit vier Millionen Euro. Man hat die wirtschaftliche und gesellschaftliche Tragweite des Problems erkannt, findet Reis. Viele betroffene Kinder verbringen ihr Leben in Heimen.
Nunmehr könne man das Genom mit unbekannter Genauigkeit betrachten. „Das ist, als hätten wir bisher aus einem Spaceshuttle auf die Erde geblickt und konnten nur sehen, wenn es in der Hauptstadt eines Landes brennt. Jetzt können wir Tiefflüge unternehmen und dabei erkennen, in welchen Straßen die Flammen lodern“, verdeutlicht Reis.
Erstaunlich viele unterschiedliche Fehler in den Erbanlagen können eine geistige Entwicklungsverzögerung nach sich ziehen. Die Vielfalt der Ursachen erklärt auch die verschiedenen Ausprägungen und die unterschiedliche Schwere der Erkrankung. Rund hundert Formen kennen die Genetiker bereits, rechnen aber mit weiteren hundert, wenn nicht tausend.
Das Team um Reis füllt einen Genatlas, der verrät, welcher Defekt mit einer geistigen Entwicklungsverzögerung einhergeht und wie diese sich äußert. Erst seit kurzem wissen die Genetiker beispielsweise, dass bei jedem zehnten Kind die Erkrankung gar nicht von den Eltern geerbt wird. Vielmehr wird bei der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle das Erbgut von Mann und Frau neu zusammengestellt. Bei diesem Vorgang können sich Fehler einschleichen, indem beispielsweise ein Gen zu viel oder zu wenig angelegt wird. Weil die Entwicklungsverzögerung in diesem Fall nicht von den Eltern stammt, sondern neu entstanden ist, sprechen die Forscher auch von de-novo-Erkrankungen.
„Wenn es sich um eine de-novo-Erkrankung handelt, können wir den Eltern in der genetischen Sprechstunde sagen, dass das Erkrankungsrisiko für ein weiteres Kind relativ gering ist“, erklärt Reis die Tragweite des Befundes. Viele Paare, für die die Familienplanung bis dahin Kopf gestanden habe, würden dann wieder Zukunftspläne schmieden.
Mit einem weiteren Erfolg bei der Aufklärung der mentalen Retardierung können sich die Berliner Forschungspartner um Hans Hilger Ropers vom Max-Planck-Institut für molekulare Genetik schmücken. Mit iranischen Wissenschaftlern untersuchten sie das Erbgut persischer Großfamilien, in denen einzelne Familienmitglieder eine geistige Entwicklungsverzögerung aufweisen. Dabei entdeckten sie, dass ein fehlender Teil des Gens TUSC3 in einigen Fällen die Behinderung erklärt. Das Erbmerkmal muss dabei von beiden Elternteilen weitergegeben werden. Es behindert die Reifung des Gehirns beim Kind.
Zeitgleich mit dem Voranschreiten der Ursachenforschung „ist außerdem die Erkenntnis gewachsen, dass mentale Retardierung doch medikamentös behandelbar ist. Bisher ging man davon aus, dass man nur zusehen kann“, schildert Reis. Anlass zur Hoffnung geben Beobachtungen an Fruchtfliegen und Mäusen mit fragilem X-Syndrom, einem der häufigsten Gendefekte für geistige Entwicklungsverzögerung beim Menschen. Bei dem Syndrom wird ein Protein im Gehirn nicht ausreichend gebildet. Das führt dazu, dass sich die Verbindungen zwischen den Nervenzellen nicht in normalem Maß verändern können. Auf dieser Plastizität beruht jedoch das Lernen. Neue Kontakte zwischen Nervenzellen werden geknüpft, manche verstärkt, andere gekappt, erläutert Hans-Jürgen Kreienkamp, der am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf die molekularen Ursachen der Krankheit erforscht. Aus diesem Grund können Patienten mit fragilem X-Syndrom nur schwer Neues aufnehmen.
Die schwerwiegenden Folgen des fehlenden Proteins können jedoch gelindert werden, indem der Spiegel des Botenstoffs Glutamat im Gehirn abgesenkt wird. Das beobachtete man an Mäusen und Fruchtfliegen. Diese Entdeckung nahm unter anderem die amerikanische Forschungsförderungsorganisation Fraxa zum Anlass, Tests an Patienten mit der Arznei Fenobam zu finanzieren. Fenobam vermindert nämlich gerade das Glutamat im Gehirn. Bei sechs von zwölf Personen besserte sich der geistige Zustand in einer ersten Studie geringfügig.
Kreienkamp ist überzeugt, dass es für häufige Formen der mentalen Retardierung wie das fragile X-Syndrom eines Tages Therapien geben wird. Bis dahin werden aber noch viele Jahre gehen. „Was wir heute herausfinden, hilft erst den Kindern von übermorgen.“