Erst einmal von wegen Maus: Die artenreiche Familie der Spitzmäuse gehört eigentlich gar nicht zu den Nagetieren. Tatsächlich sind die Winzlinge eng mit den Maulwürfen und Igeln verwandt. In Mitteleuropa kommen zehn Arten vor, darunter die etwa zehn Gramm schwere Waldspitzmaus (Sorex araneus). Die stets aktiven Tierchen führen ein Leben auf der Überholspur: Der Energiebedarf der Waldspitzmäuse ist so hoch, dass sie verhungern, wenn sie nur zwei bis drei Stunden nichts zu fressen finden. Im Sommer ernähren sie sich hauptsächlich von Würmern und Larven. In der kalten Jahreszeit müssen sie hingegen vor allem überwinternde Insekten und Spinnen aufstöbern.
Durchleuchtete Spitzmäuschen
Es gab bereits Hinweise darauf, dass Spitzmäuse im Winter nicht nur leichter sind, sondern tatsächlich auch kleiner als im Sommer. Dieser Spur sind die Forscher um Javier Lazaro vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell nun systematisch nachgegangen. Sie fingen dazu rund 100 wildlebende Waldspitzmäuse aus der Umgebung ein. Anschließend verpassten sie ihnen reiskorngroße elektronische Chips unter die Haut, wie sie auch zur Identifikation von Haustieren verwendet werden. Außerdem fertigten die Forscher von allen Tieren Röntgenaufnahmen an, um ihre Körperstrukturen genau zu erfassen. Anschließend wurden die winzigen Probanden wieder freigelassen, in der Hoffnung, sie später wieder einfangen zu können. Wie die Forscher berichten, klappte dies bei einem Drittel der Tiere.
Die erneuten Untersuchungen mittels Röntgenaufnahmen offenbarten: Alle Spitzmäuse hatten über den Winter hinweg fast ein Fünftel ihres Körpergewichts verloren. Ab dem Frühjahr konnten sie dann ihr Gewicht wieder verdoppeln. Wie die Forscher zeigen konnten, war diese Gewichtsveränderung auf den Ab- und Aufbau von Organen und Knochenstrukturen zurückzuführen. Besonders bemerkenswert: „Die Schädelhöhe nahm im Winter um 15 Prozent, manchmal sogar bis maximal 20 Prozent ab und im Frühjahr wieder bis zu neun Prozent zu“, berichtet Lazaro.
Ein Energiesparkonzept?
Die Forscher interpretieren das Phänomen als eine bisher unbekannte Strategie, bei einem hohen Stoffwechsel mit dem Nahrungsmangel und den niedrigeren Temperaturen im Winter zurecht zu kommen. „Normalerweise sind Tiere in kälteren Zonen größer und haben dadurch ein gutes Verhältnis von Volumen zu Oberfläche, um Wärmeverluste zu kompensieren. Die Spitzmaus hingegen hat eine im Verhältnis zum Volumen große Oberfläche und könnte durch das Schrumpfen überlebenswichtige Energie sparen“, sagt Co-Autorin Dina Dechmann. Dabei könnte die Einschränkung der Gehirnmasse besonders effektiv sein, denn es ist bekannt, dass das Nervenorgan ein Energiefresser ist.
Wie die Wissenschaftler berichten, sind sie mittlerweile auf ein weiteres Beispiel für den Mechanismus gestoßen: Auch beim Wiesel scheint der Schädel im Winter zu schrumpfen. Den Forschern zufolge haben auch diese Raubtiere einen überaus hohen Energiebedarf und können dem Winter nicht ausweichen oder eine Winterruhe einlegen. Möglicherweise haben sie deshalb ein ähnliches Konzept wie die Waldspitzmäuse entwickelt.
Auch medizinisch interessant
Den Forschern zufolge ist das Phänomen nicht nur aus biologischer Sicht spannend – es könnte auch für die medizinische Grundlagenforschung interessant sein: „Diese Veränderungen ähneln Vorgängen wie sie bei Osteoporose ablaufen“, erklärt Co-Autor Moritz Hertel. „Wir untersuchen nun zusammen mit Kollaborationspartnern an einer Uniklinik diese Prozesse beim Abbau der Knochensubstanz. Darüber hinaus könnten auch die Veränderungen an Gehirn und Herz medizinisch interessant werden“, so der Wissenschaftler.