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Tierversuche – wo sind sie ersetzbar?

Erde|Umwelt Gesellschaft|Psychologie

Tierversuche – wo sind sie ersetzbar?
Die Zahl der Tierversuche steigt und sinkt zugleich. bild der wissenschaft analysiert die Hintergründe und zeigt Alternativen auf.

So unglaublich es klingen mag: Industrie und Tierschützer haben ein gemeinsames Ziel: Sie wollen die Zahl der Tierversuche drastisch senken. Neue Forschungsergebnisse zeigen, dass dies möglich ist. Einige alternative Testmethoden sind inzwischen offiziell anerkannt und werden in Industrie und Forschung angewandt. Trotzdem steigt die Zahl mancher Tierversuche weltweit an. bild der wissenschaft hat die Ursachen recherchiert.

Frage 1: Wer braucht wozu Tierversuche?

In Deutschland wurden 2004 über 2,2 Millionen Versuchstiere „ verbraucht“, das heißt nach einmaligem oder mehreren Tests getötet. Damit stieg der Bedarf um über 153 000 Tiere im Vergleich zu 2003. Das ergab die im November letzten Jahres vom Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (BMVEL) vorgelegte aktuelle deutsche Versuchstierstatistik. Der größte Versuchstierbedarf besteht in der biologischen Grundlagenforschung: fast 760 000 Tiere. Darunter waren über 520 000 Mäuse, über 113 000 Ratten und fast 95 000 Fische. Anhand dieser Tiere wurde unter anderem erforscht, wie Gene, Biomoleküle und Zellen funktionieren und zusammenarbeiten, wie sich Nerven, Muskeln und andere Organe entwickeln und wie sie krank werden.

Fast eine halbe Millionen Tiere wurde für die Entwicklung von Medikamenten sowie anderen Produkten und Geräten für die Human- und Veterinärmedizin eingesetzt. Hier waren es über 187 000 Ratten und wieder vor allem Mäuse: über 267 000.

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Sehr viel kleiner ist der Verbrauch in dem Bereich, den man meist mit Tierversuchen in Verbindung bringt: den Giftigkeits- und Sicherheitstest von Chemikalien und Medikamenten. Knapp 161 000 Tiere wurden hierfür getötet. Neben Mäusen und Ratten waren es vor allem Fische: fast 41 000. Ihr Anteil bei allen Einsatzgebieten stieg von 2003 bis 2004 um fast 30 000 Exemplare insgesamt. Zur Erprobung von Schusswaffen und Munition sind Tierversuche generell verboten, zur Entwicklung von Tabak und Waschmittelprodukten nur in Ausnahmen möglich. Für Kosmetika hat die EU die Tierversuche stark eingeschränkt. Seit 2003 dürfen kosmetische Fertigprodukte überhaupt nicht mehr an Tieren getestet werden und die Rohstoffe nur, wenn sie nicht vorwiegend in Kosmetika zum Einsatz kommen. Ab 2013 werden alle Tierversuche für Schminke und Co verboten sein.

Edgar Gärtner

Ohne Titel

Das deutsche Tierschutzgesetz zählt weltweit zu den restriktivsten. Bevor in Deutschland die Genehmigung für einen Tierversuch erfolgt, wird eine Tierschutzkommission angehört, in der neben Fachwissenschaftlern auch Vertreter von Tierschutzverbänden sitzen. Diese Kommission beurteilt nicht nur, ob der Versuch wissenschaftlich erforderlich ist, sondern auch, ob er sich ethisch vertreten lässt.

Ohne Titel

Diese Organisationen regeln die Zulassung von Alternativen zu Tierversuchen:

ZEBET: Die 1989 gegründete Zentralstelle zur Erfassung und Bewertung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden zu Tierversuchen in Berlin erforscht und bewertet Alternativen im Auftrag der deutschen Bundesregierung.

ECVAM: Das 1992 gegründete European Center for the Validation of Alternative Methods in Ispra/Italien sucht im Auftrag der EU nach Alternativen zu Tierversuchen und bewertet deren Tauglichkeit und Sicherheit.

OECD: Die Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit legt detaillierte Vorschriften für Sicherheits- und Giftigkeitsnachweise fest, damit diese weltweit vergleichbar sind, wie die Test Guidelines (TG) und die Good Laboratory Practice (GLP). Die OECD ist weltweit die letzte Instanz bei der Zulassung von international gültigen Tierversuchsalternativen.

Ohne Titel

Frage 2: Wie weit kann man sich auf die Ergebnisse von Tierversuchen verlassen?

An Tieren simulieren Forscher Funktionsweisen des menschlichen Körpers, seine Krankheiten und wie er auf Medikamente oder Gifte reagiert. Möglich ist das wegen der großen genetischen Verwandtschaft zwischen allen Wirbeltieren: Das Erbgut von Maus und Mensch unterscheidet sich nur um etwa 2,5 Prozent voneinander. Auch Nerven- und Hormonsysteme beider Säugerarten funktionieren sehr ähnlich. Deshalb spielen Mäuse selbst in der Hirnforschung eine bedeutende Rolle.

Dennoch können einzelne Stoffwechselwege und Reaktionen relativ nahe verwandter Säugetiere oder sogar verschiedener Zuchtlinien ein und derselben Tierart stark voneinander abweichen. Es ist nicht nur wichtig, ob ein Tier ein bestimmtes Gen hat, sondern auch ob und unter welchen Umständen es diese Erbinformation einsetzt. Da gibt es große Unterscheide. Die Aussagekraft von Tierversuchen hängt also sehr von der Auswahl der Zuchtlinien, der Haltung und der Ernährung der Versuchstiere ab. Deshalb gibt es dafür im Rahmen der Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) seit Anfang der Achtzigerjahre Konventionen – wie die Good Laboratory Practice (GLP) –, die auf der Auswertung einer Vielzahl von Erfahrungen beruhen.

Auf diese Weise sind die Ergebnisse von Tierversuchen verschiedener Labors vergleichbar. Die Einhaltung dieser Richtlinien bei der Versuchsdurchführung bietet zudem den großen Vorteil, dass für die Zulassung in einem anderen OECD-Land keine weiteren Tests notwendig sind, weil dort die Ergebnisse anerkannt werden. Das spart nicht nur Kosten, es müssen auch weniger Tiere getötet werden.

Generell gilt die Aussagekraft von Tierversuchen als hoch – vor allem in der Grundlagenforschung. Darum werden sie weltweit von Wissenschaftlern eingesetzt und von Behörden zum Schutz von Verbrauchern und Umwelt vorgeschrieben. Allein Mäuse und Ratten liefern bei etwa 70 Prozent aller Fragestellungen auf den Menschen übertragbare Ergebnisse – bei der gewünschten Wirkung genauso wie bei den unerwünschten Nebenwirkungen. Ein Beispiel: Der Aspirin-Wirkstoff Acetylsalicylsäure lindert Schmerzen beim Menschen ebenso wie bei der Ratte. Gleichzeitig fördert er aber auch bei beiden die Blutungsneigung.

Es gibt dennoch eine Reihe von Beispielen, die zeigen, dass selbst korrekt durchgeführte Tierversuche mitunter zu falschen Schlüssen verleiten oder bestimmte Fragen gar nicht klären können. So wurde das krebserregende Asbest unnötig spät verboten. Denn Ratten, die ansonsten als beinahe ideale Modelle für Giftempfindlichkeit und eine Vielzahl menschlicher Krankheiten gelten, erwiesen sich ausgerechnet Asbest gegenüber als ziemlich unempfindlich – und somit als ungeeignetes Modell. Da das Rattengenom inzwischen beinahe vollständig entschlüsselt ist, wissen die Forscher, dass Ratten und Mäuse über deutlich mehr Gene für die Entgiftung gefährlicher Substanzen verfügen als Menschen. Sonst könnten sie kaum in ihrer oft schmutzigen Umwelt überleben. „Stoffprüfungen an Mäusen und Ratten müssen berücksichtigen, dass diese Tiere manchmal über Entgiftungsmöglichkeiten verfügen, die uns Menschen fehlen“, sagt Martin Hrabé de Angelis, Leiter des Mäuselabors am GSF Forschungszentrum Neuherberg.

Völlig in der Sackgasse endete das Unterfangen, mithilfe von Experimenten an Tieren zu klären, ob das für die Herstellung von CDs und Dosen-Beschichtungen nötige Zwischenprodukt Bisphenol A wie ein Sexualhormon wirkt. Bei jeder Tierart gelangten die Forscher zu anderen Ergebnissen. Welche davon auf den Menschen übertragbar sind, konnte erst durch ein Experiment mit freiwilligen Versuchspersonen geklärt werden. Es zeigte sich, dass Menschen hier robuster als viele Tiere sind: Die menschliche Leber entgiftet das Bisphenol sehr schnell.

Unzufrieden mit den Giftigkeitstests an Tieren ist Thomas Hartung. Der Leiter der European Center for the Validation of Alternative Methods, das für die EU Alternativen zu Tierversuchen erforscht und beurteilt, bemängelt, dass viele der heute eingesetzen Tests auf „schlechter Wissenschaft“ beruhten: „ Contergan würde auch heute nicht durch die üblichen Tierversuche entdeckt.“

Ohne Titel

Frage 3: Inwiefern können Tierversuche durch Alternativen ersetzt werden?

Seit den Achtzigerjahren arbeiten Forscher verstärkt an schmerzfreien Testmethoden, um die Zahl der Tierversuche zu senken. Das deutsche Tierschutzgesetz – wie auch die entsprechende EU-Richtlinie von 1986 – akzeptieren Experimente an lebenden Tieren nur, solange es für sie keine Alternativen gibt. Für die Experimentatoren gilt dabei das bereits 1959 von den britischen Forschern William Russel und Rex Burch angeregte „ 3R-Prinzip“: Reduce, Refine, Replace (Reduzieren, Verbessern, Ersetzen). Dabei steht „Reduce“ für die Verminderung des Versuchstierbedarfs durch eine bessere Versuchsplanung und -auswertung, „Refine“ für den Einsatz schonenderer und aussagefähigerer Experimentiermethoden und „Replace“ für den Ersatz von Tierversuchen durch schmerzfreie Alternativen wie Tests an Zell- und Gewebekulturen oder Computersimulationen.

Diese 3Rs werden bereits angesetzt oder zurzeit erprobt:

Effizientere Tierversuche

Wie viele Tiere man allein durch Verbesserungen an den Experimenten einsparen kann, zeigen die LD50-Giftigkeitstests, mit denen die Schadstoffkonzentration bestimmt wird, bei der die Hälfte der Versuchstiere stirbt. Waren in den Siebzigerjahren pro Substanz noch 150 Tiere vorgeschrieben, reichten in den Achtzigerjahren schon 45 Tieren aus. Diese Zahl konnte im vergangenen Jahrzehnt mithilfe des 1992 gegründeten European Centers for the Validation of Alternative Methods (ECVAM) in Ispra/Italien sogar auf 12 bis 16 Tiere gesenkt werden. Und die Entwicklung ist noch nicht zu Ende. „Es scheint nicht ausgeschlossen, dass LD50-Tests im nächsten Jahrzehnt ganz durch alternative Methoden ersetzt werden können“, sagt Thomas Hartung, Leiter der ECVAM. Um diesem Ziel näher zu kommen, arbeiten öffentliche Forschungsinstitute vieler EU-Länder mit der ECVAM und Firmen wie etwa Bayer HealthCare zusammen. Ihr Ziel ist, zuverlässige und automatisierbare Test-Strategien für Stoffzulassungen nach dem neuen EU-Chemikalienrecht zu entwickeln, die ohne Versuchstiere auskommen und stattdessen mit angebrüteten Eiern oder Zellkulturen arbeiten.

Haut- und Zelltests

Ein Vorbild dafür ist der Ersatz des äußerst schmerzhaften Draize-Tests an Augen lebender Kaninchen, mit dem augenreizende Substanzen erkannt werden. Für diesen Test gibt es bereits seit etwa 15 Jahren eine Alternative: den HET-CAM-Test mit bebrüteten Hühnereiern. Dabei wird die Eierschale geöffnet und die Dottermembran mit der Testsubstanz beträufelt. Zeigt die Membran auch nur Spuren einer Schädigung, wird die untersuchte Substanz als ätzend ausgesondert. Dieser Test gilt inzwischen in der Industrie als Routineverfahren. Allerdings ist er nicht empfindlich genug, um schwach haut- und augenreizende Stoffe ausfindig zu machen. Dafür gibt es inzwischen andere Ersatztests wie den kommerziell angebotenen Episkin-Test, bei dem mit künstlicher Haut aus menschlichen Zellen gearbeitet wird, den Überbleibseln von Operationen. Dieser Tests ist in der EU anerkannt, ebenso wie die ähnlichen „Epiderm-“ oder „Sift“ -Verfahren. Allerdings gibt es bislang noch keinen anerkannten tierfreien Test für sehr schwach reizende Stoffe. Deshalb ist der Draize-Test außerhalb der EU auch heute noch üblich. Immerhin werden inzwischen die Augen lebender Kaninchen durch herausoperierte Augen toter Kaninchen ersetzt.

Mit Kulturen aus Mäusezellen oder menschlichen Hautzellen arbeitet der 3NRU-Test. Er deckt auf, ob Medikamente und Kosmetika die Haut für Licht sensibilisieren und so schon bei leichter Sonneneinstrahlung zu Verbrennungen führen. Entwickelt wurde der Test unter Federführung der 1989 gegründe-ten deutschen Zentralstelle zur Erfassung und Bewertung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden zu Tierversuchen (ZEBET). Er ist erheblich zuverlässiger und deutlich schneller als der frühere Test an rasierten Mäusen, Ratten, Meerschweinchen oder Kaninchen, die in enge, mit UV-Licht bestrahlte Röhren gesteckt wurden.

Bluttests

Ebenfalls kommerziell vertrieben wird der PyroCheck-Test, mit dessen Hilfe Impfstoffe, Infusionslösungen und injizierbare Arzneimittel auf fieberauslösende (pyrogene) Verunreinigungen überprüft werden. Dabei wird eine geringe Menge menschlichen Bluts von einem gesunden Spender mit der zu testenden Substanz vermischt. Sind darin Pyrogene enthalten, bilden die weißen Blutkörperchen den Botenstoff Interleukin-1, der sich durch eine Fluoreszenz-Reaktion nachweisen lässt. Bis in die Neunzigerjahre mussten für Pyrogentests Tausende von Kaninchen ihr Leben lassen.

Stammzelltests

Vielfältig einsetzbar und sehr aussagekräftig sind Tests an embryonalen Stammzellen von Mäusen. Mit ihnen lassen sich verschiedene Organe und sogar heranwachsende Embryonen oder Föten simulieren. Deshalb kann man mit den Stammzellen nicht nur akut giftige, sondern auch fruchtschädigende (teratogene) Eigenschaften von Chemikalien erkennen. Ein klassisches Beispiel für einen solchen Stoff ist das unter dem Namen Contergan bekannt gewordene Arzneimittel Thalidomid, das in den Sechzigerjahren Tausende ungeborene Kinder schwer schädigte. Die EVCAM hat Stammzellentests grundsätzlich als Teilschritt von Stoffprüfungen zugelassen. Bislang werden sie jedoch nicht als kompletter Ersatz für Tierversuche anerkannt.

Ein Forscherteam der Kölner Biotech-Firma Axiogenesis hat vor Kurzem den „R.E.Tox-Test“ zum Nachweis von fruchtschädigenden Wirkungen vorgestellt: An Mäusestammzellen wird geprüft, ob Chemikalien oder Medikamente die Entwicklungung der Stammzellen zu Herzzellen verändern.

Auch die ausgewachsenen Herzzellen lassen sich für Tests verwenden. Das Prinzip: Giftige Substanzen verändern die Schlagkraft und den Rhythmus der Zellen. Diese Veränderungen wertet eine spezielle Bildverarbeitungs-Software automatisch aus, die am Fraunhofer-Institut für angewandte Informationstechnik in Sankt Augustin entwickelt wurde. Allerdings funktionieren die Stammzell-Tests nicht bei Substanzen, die erst durch Stoffwechselprozesse fruchtschädigend werden. Sie müssen weiterhin in Tierversuchen überprüft werden.

Biochemische und Computer-Tests

In den letzten 20 Jahren hat sich die Pharmaforschung stark verändert. Während man früher mögliche Wirkstoffe fast immer an Tieren testete, gibt es heute mehrere Vorauswahlverfahren, die den größten Teil der Substanzen schon im Vorfeld aussortieren. So wird nur noch ein geringer Teil von potenziellen Medikamenten an Tieren erprobt. Effekt: Der Tierverbrauch hierfür sank in Deutschland von 4,4 Millionen Tieren (1971) auf 0,5 Millionen (2004). Die zwei wichtigsten Verfahren sind:

• das High Throughput Screening, bei dem roboterunterstützt getestet wird, ob ein Wirkstoff mit Molekülen des Körpers reagiert, und

• Computersimulationen, in denen geprüft wird, ob ein Wirkstoff aufgrund seiner Struktur überhaupt als Medikament in Frage kommt.

Andere Techniken wie die Magnetresonanz-Tomographie erlauben zumindest schmerzfreie und unblutige Tierexperimente, da man mit ihnen Wege und Reaktionen von Testsubstanzen im Organismus auf dem Bildschirm verfolgen kann.

Ohne Titel

Frage 4: Warum dauern Anerkennung und Durchsetzung alternativer Verfahren so lange?

Bis jetzt wurden von der OECD erst acht tierversuchsfreie Verfahren zur Prüfung der akuten Toxizität von Stoffen offiziell anerkannt. Es handelt sich um die erwähnten Methoden Episkin und vergleichbare Tests, 3NRU sowie um Tests zur akuten Giftigkeit und Verfahren, die prüfen, wie gut Chemikalien über die Haut aufgenommen werden. Diese Testverfahren werden in der Industrie zum Teil bereits seit Jahren eingesetzt.

Bis die OECD die Verfahren als praktikabel anerkannte, dauerte es jedoch zum Teil anderthalb Jahrzehnte – zum Beispiel beim 3NRU-Test, und das, obwohl er erheblich zuverlässiger ist als die früher vorgesehenen Tierversuche. Zebet-Leiter Horst Spielmann: „ Zu den Zeitverzögerungen kam es, weil es zunächst noch nicht genug internationale Partner gab, um den Validierungsprozess korrekt durchführen zu können.“ Dieser besteht nach einer Anfang der Neunzigerjahre erzielten internationalen Übereinkunft aus insgesamt fünf Schritten:

• Der Entwicklung eines standardisierungsfähigen Testverfahrens.

• Dessen Überprüfung in Form von Blindversuchen durch unabhängige Labore (Prävalidierung).

• Die eigentliche Validierung in Form streng kontrollierter internationaler Ringversuche unter „doppelt blinden“ Bedingungen. Dabei werden sowohl die Testsubstanzen als auch die Namen der beteiligten Labore verschlüsselt.

• Danach folgt die Auswertung durch unabhängige Experten und die Publikation der Ergebnisse in anerkannten Fachzeitschriften.

• Als letztes folgt die behördliche Anerkennung des neuen Tests durch seine Aufnahme in offizielle Prüfrichtlinien der OECD. Dadurch wird der bisherige Tierversuch nach geltendem EU-Recht hinfällig.

Auch wenn es inzwischen genügend Labore gibt, die für internationale Ringversuche in Frage kommen, können die Prozeduren im Einzelfall immer noch leicht ein ganzes Jahrzehnt in Anspruch nehmen. Thomas Hartung, Leiter der ECVAM, sieht zurzeit bei alternativen Testmethoden einen regelrechten „ Validierungsstau“. Nicht weniger als zwölf alternative Testverfahren, darunter der in Frage 3 erwähnte PyroCheck-Bluttest, warten auf ihre Zulassung. Thomas Hartung, der mit seinem Institut die Einführung von Alternativen vorantreibt, sieht allerdings im internationalen Kontext kaum Spielraum für eine Beschleunigung: „Die regulatorische Anerkennung ist ein Konsensprozess zwischen vielen Staaten. Außerdem ist die Sicherheitsprüfung zu Recht konservativ, da man nicht leichtfertig unseren hohen Standard gefährden möchte.“

Tierschützer argwöhnen dagegen, die aufwendigen Prozeduren dienten eher dazu, die Einführung von Alternativen zu verzögern. Außerdem stören sie sich daran, die neuen Methoden an den Ergebnissen von Tierversuchen eichen zu müssen, die keinem vergleichbaren Validierungsprozess unterworfen waren. „Die Qualität neuer Testsysteme wird an einer schlechten, veralteten Methode gemessen“, klagt die Veterinärmedizinerin Corina Gericke vom deutschen Bundesverband der Tierversuchsgegner. „Wir fordern stattdessen eine Eichung tierversuchsfreier Testmethoden an bekannten Daten aus der Humanmedizin.“ Vorbild dafür ist der 3NRU-Test. Er wurde mit Daten UV-Licht bestrahlter Menschenhaut validiert. Denn eine Studie der OECD hatte schon zu Beginn der Neunzigerjahre festgestellt, dass die Ergebnisse der üblichen Tierversuche viel zu ungenau waren: Sie ließen sich nur zu 40 Prozent auf Menschen übertragen.

In der Praxis werden die Forderungen der Tierversuchsgegner zum Teil erfüllt, denn vor allem EVCAM will seine Bewertungen auf ein möglichst hartes wissenschaftliches Fundament stellen. So werden bei den Validierungsverfahren auch Daten von Vergiftungen an Menschen hinzugezogen, zum Beispiel aus arbeitsmedizinischen Datenbanken.

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Frage 5: Warum lassen sich bestimmte Tierversuche bis heute nicht ersetzen?

Auch wenn tierfreie Testmethoden als Ergänzung und zum Teil auch als Totalersatz für Tierversuche an Bedeutung gewinnen, gibt es Fragestellungen, die bislang nur mit Tierversuchen geklärt werden können. Es sind all die Probleme, bei denen es nicht um eine allgemeine Giftigkeit oder die Wirkung auf einzelne Organe geht, sondern die den Körper als zusammenhängendes System betreffen. Zum Beispiel: Wird eine als harmlos erscheinende Substanz durch bislang unbekannte Substanzen im Körper zu einem Gift umgebaut, oder wird ein toxischer Stoff im Körper zerstört, bevor er Schaden anrichten kann?

Außerdem sind Tierversuche bei der Prüfung der chronischen Giftigkeit nur schwer ersetzbar. Diese Versuche sollen klären, welche langfristigen Folgen die ständige Zufuhr geringer Mengen von Stoffen wie Asbest oder Dioxin für den Körper hat. Um das zu erkennen, führt man Untersuchungen über 90 Tage durch. Bei Tests auf krebserregende Eigenschaften werden die Wirkstoffe zum Teil sogar über mehrere Jahre gegeben.

Das gilt besonders für die sexualhormonähnlichen Wirkungen von Chemikalien. Sie können dazu führen, dass Föten zu Zwittern heranreifen oder dass ihre Geschlechtsorgane kaum oder falsch ausgebildet werden.

Menschen und Tiere nehmen tagtäglich hormonell wirksame Stoffe über die Nahrung – zum Beispiel Gemüse – auf, ohne dass ihr hormonelles Gleichgewicht aus dem Lot gerät. Sie verfügen offenbar über Möglichkeiten, solche Substanzen zu neutralisieren. Deshalb sagt der Nachweis einer hormonellen Aktivität im Reagenzglas noch nichts über die Wirkung einer Substanz im Gesamtorganismus aus. Tierversuche sind für diese Fragestellungen aussagekräftiger, auch wenn sie nicht immer zum richtigen Ergebnis führen, wie man am Beispiel des Bispenol A (siehe Frage 2) feststellen musste.

Auch Computersimulationen helfen da nur begrenzt weiter, denn grundsätzlich können diese, wie der zuständige Wissenschaftsausschuss CSTEE betont, immer nur bereits vorhandenes Wissen von den komplexen Wechselwirkungen zwischen Zellen, Geweben und Organen über Hormone, Nerven oder das Immunsystem berücksichtigen. „Dieses Wissen gleicht aber auf vielen Gebieten auch heute noch Inseln in einem Meer von Nichtwissen. Deshalb sind Überraschungen nie ausgeschlossen“, sagt Helmut Greim, Direktor des Instituts für Toxikologie und Umwelthygiene der TU München. EVCAM-Leiter Hartung: „Um aus Gründen der Haftung auf Nummer sicher zu gehen, zieht es deshalb die Industrie bis heute vor, neue Stoffe, wo immer möglich, an Tiermodellen zu testen, bevor sie diese auf die Menschheit loslässt.“

Harald Enzmann vom Deutschen Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in Bonn warnt: „Wird bei unbekannten Substanzen versucht, auf die Untersuchung des Gesamtorganismus zu verzichten, ist absehbar, dass schädigende Wirkungen übersehen werden. Deshalb wird es so bald wohl keinen internationalen Konsens über den vollständigen Ersatz vorgeschriebener Tierversuche geben.“

Alles in allem werden Tierversuche trotz aller Probleme wohl noch lange eine Art „Goldstandard“ bei der Entwicklung und Sicherheitsprüfung von Arzneimitteln und anderen Stoffen bleiben, da die Erforschung von Alternativen nicht nur viel Zeit und Geld in Anspruch nimmt, sondern in manchen Anwendungsbereichen grundsätzlich als wenig aussichtsreich erscheint. Außerdem gibt es seit einigen Jahren neue Möglichkeiten in der Grundlagenforschung, völlig neue Erkenntnisse aus Tierversuchen zu gewinnen. Darum geht es in der nächsten Frage.

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Frage 6: Warum nimmt die Gesamtzahl der Versuchstiere weltweit wieder zu?

In den Jahren 1991 bis 1997 konnte die Zahl der Tierversuche in Deutschland von 2,5 auf 1,5 Millionen gesenkt werden – ein Rückgang um 40 Prozent. Seit 1998 aber nehmen die Tierversuche tendenziell wieder zu, und das weltweit. Der Hintergrund: Durch die Erkenntnisse der Genomforschung kennen die Forscher inzwischen viele Gene, die Krankheiten auslösen oder verhindern. Und die moderne Gentechnik macht es möglich, diese Gene auszuschalten (Knock-out), zu verändern oder sie von einem Lebewesen in ein anderes zu übertragen. Auf diese Weise können Wissenschaftler regelrecht Tiermodelle von Krankheiten konstruieren, um an ihnen deren Entwicklung und Gegenmaßnahmen zu erforschen.

„Transgene oder Knock-out-Tiere eröffnen erstmals die Möglichkeit, die Funktion einzelner Gene innerhalb des komplexen Zusammenspiels eines Organismus zu erfassen“, sagt Paul Herrling, Forschungsleiter des Pharmakonzerns Novartis International. „ Deshalb sind diese Tiermodelle so gut auf den Menschen übertragbar.“ Genetisch veränderte Mäuse sind aufwendig zu konstruieren und kosten zum Teil mehr als 200 Dollar je Einzeltier, doch sie gelten als beinahe ideale Modelle zur Simulation genetisch bedingter Krankheiten.

Obwohl bis jetzt noch kein einziges neues Medikament auf der Grundlage solcher Studien bis zur Marktreife gebracht wurde, hat sich das Arbeiten mit transgenen Mäusen in der Pharmaforschung als so hilfreich erwiesen, dass hier – anders als in der Toxikologie – nicht mehr davon die Rede ist, in Zukunft Tierversuche möglicherweise total zu ersetzen. Dasselbe gilt für die Grundlagenforschung.

So sind in den letzten Jahren viele Erkenntnisse über Krebs, Alzheimer, Querschnittslähmung und Stoffwechselstörungen sowie über die Funktion von Genen an transgenen Tieren gewonnen worden. Gentechnisch veränderte Zellkulturen liefern zwar auch Erkenntnisse, aber mit ihnen ist es bislang nicht möglich, die im Körper oder im Zentralnervensystem ablaufenden komplexen Wechselwirkungen zu imitieren.

Neuen Auftrieb erhält der Einsatz von Versuchstieren auch durch die Umwelt- und Verbraucherschutzpolitik der EU. Nach dem neuen EU-Chemikalienrecht, der REACh-Verordnung (Registration, Evaluation and Authorisation of Chemicals) müssten rund 30 000 „ Altstoffe“, die bereits vor dem Inkrafttreten der europäischen Chemikalienrichtlinie im September 1981 auf dem Markt waren, nach einheitlichen Verfahren im Hinblick auf Gesundheits- und Umweltrisiken bewertet werden. Diese Stoffprüfungen erfordern nach den bislang gültigen Vorschriften eine Vielzahl von Experimenten an lebenden Tieren, vor allem an Mäusen und Ratten. Wissenschaftler des deutschen Bundesinstituts für Risikobewertung schätzen den Bedarf für REACh auf nicht weniger als 45 Millionen Versuchstiere in den ersten 15 Jahren nach Verabschiedung der Richtlinie. Davon würden 80 Prozent in der Reproduktionstoxikologie benötigt. Allerdings könne diese Zahl auf 7,5 Millionen gedrückt werden, wenn vorhandene Testdaten benutzt und verstärkt neue Teststrategien, Computersimulationen sowie tierversuchsfreie Labormethoden eingesetzt würden. In den Augen von Tierfreunden ist das trotzdem eine erschreckende Perspektive.

Möglicherweise wird aber das Gesetzesvorhaben der EU noch so weit verändert, dass tierversuchsfreie Testverfahren bei der Risikobewertung von Chemikalien nicht nur eine ergänzende, sondern die zentrale Rolle spielen werden. Allerdings sind viele dafür nötige Tests noch nicht offiziell anerkennt – darunter die embryonalen Stammzelltests zur Entdeckung embryoschädigender Eigenschaften.

Die Aktivitäten der EU-Kommission haben inzwischen zu einer heimlichen Allianz von Industrie und Tierschützern geführt. Denn auch in der Industrie sind Tierexperimente unbeliebt: Sie sind teuer, zeitaufwendig und bergen stets die Gefahr der öffentlichen Brandmarkung. Alternativmethoden an Zellen, Molekülen und im Computer sind – wenn sie erst einmal etabliert sind – einfacher und schneller durchzuführen. Zum Teil lassen sie sich sogar automatisieren. Vielleicht bewirkt das neue Chemikalienrecht der EU somit unabsichtlich den Abbau von Tierversuchen. ■

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Horst Spielmann vom ZEBET Berlin und sein Team arbeiten an Tests, mit denen sich krebserregende Wirkungen vorhersagen lassen. Die Forscher nutzen unreife Keimzellen der Maus. Diese eignen sich besonders gut, weil sie empfindlicher auf mutagene Stoffe reagieren als die übrigen Körperzellen.

Michael Schwarz, Universität Tübingen, koordiniert das Programm „ReProTect“, an dem 30 Forschungsinstitute, die OECD und neben der Bayer AG auch der französische Ableger des US-Pharmakonzerns Pfizer mitarbeiten. Ihr Ziel: Modellierung des Fortpflanzungszyklus durch eine Kombination von Zellkulturen mit Chip-Sensortechniken und Computersimulationen, um Hormonwirkungen von Chemikalien zu entdecken.

Rita Cortvrindt, Freie Universität Brüssel, erforscht Tests auf hormonartige Wirkungen von Stoffen, die die Fortpflanzung beeinträchtigen können. Sie arbeitet mit Kulturen von Mäuseeiern verschiedener Reifestadien.

Christoph Helma, Universität Freiburg, hat eine Datenbank zur Vorhersage krebserzeugender Stoffe entwickelt. Er nutzt die Daten von bereits im Tierversuch getesteten chemischen Verbindungen und sagt die Giftigkeit aufgrund der chemischen Struktur voraus.

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For|te|pi|a|no  〈n. 15; Mus.〉 I 〈unz.〉 starke u. sofort nachlassende Tonstärke II 〈zählb.; veraltet〉 = Pianoforte … mehr

♦ Na|tri|um|hy|dro|xid  auch:  Na|tri|um|hyd|ro|xid  〈n. 11; Chem.〉 weißer, hygroskop. Stoff, reagiert mit Wasser unter Wärmeentwicklung zu Natronlauge; … mehr

so|lie|ren  〈V. i.; hat; Mus.〉 1 ein Solo singen od. spielen 2 ohne Begleitung singen od. spielen … mehr

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