Hochwirksame Antibiotika sind beispielsweise meist nur an Erwachsenen getestet. Ärzte behelfen sich im Krankheitsfall mit der Faustregel: „Kinder nehmen die Hälfte.“ Für Seyberth ein unhaltbarer Zustand. Weder die Körpergröße noch das Gewicht lassen auf die erforderliche Menge an Tabletten oder Tropfen schließen. Allein der Stoffwechsel ist ausschlaggebend und der ist bei jungen Menschen eben anders als bei Erwachsenen.
Wird die Dosierung von Medikamenten bei Kindern über den Daumen gepeilt, kann es zu Nebenwirkungen kommen. Die Folge sind kurzfristige und teils sogar lebenslange Schäden, die beim Erwachsenen entweder gar nicht oder nur in geringem Ausmaß beobachtet werden. So steigt das Asthmarisiko für Kinder um das 2,6-fache, wenn sie in den ersten sechs Lebensmonaten ein Antibiotikum erhalten. Bekommen die Neugeborenen ein Breitbandantibiotikum, leiden sie später sogar 8,9-mal häufiger an Asthma als unbehandelte Kinder. Dies berichtete die amerikanische Wissenschaftlerin Christine Johnson vom Henry Ford Health System in Detroit auf einer internationalen Medizinkonferenz. Sie hatte 448 Kinder untersucht. Die Forscherin vermutet, dass Antibiotika das sich gerade erst entwickelnde Immunsystem der Neugeborenen stören.
Solche Effekte sind kein Einzelfall. „Wird bei Kindern mit Krebs der Wirkstoff Antrazyklin eingesetzt, so wird das Herz geschädigt. Unter Umständen muss das Herz sogar transplantiert werden“, berichtet Seyberth der Nachrichtenagentur ddp. Ein anderes Beispiel: Glukokortikoide helfen zwar dabei, Frühgeborene von der künstlichen Beatmung zu entwöhnen. Später sind die Kinder jedoch oft geistig geschädigt. In den vergangenen zehn Jahren seien in Großbritannien mehr und mehr Kinder in Folge von Medikamenten gestorben, heißt es in der Fachzeitschrift Archives of Disease in Childhood. Die größte Gefahr gehe von Antiepileptika, Narkosemitteln und Antibiotika aus.
Gerade bei schweren Krankheiten wie Tumoren, Herzschwäche, Hirnentzündung oder Epilepsie fehlt jegliche geprüfte Medizin für Kinder. „Bei einem sterbenskranken Kind kann man es dennoch nicht verantworten, nur wegen fehlender Prüfungen auf ein möglicherweise rettendes Medikament zu verzichten“, meint Fred Zepp, Direktor an der Mainzer Universitätsklinik. Andernfalls droht eine Klage, weil dem Kind eine lebensrettende Maßnahme verweigert wurde. Ärzte müssen mögliche Spätfolgen gegen die Heilungschancen eines Medikamentes abwägen.
„Die derzeitige Novelle des Arzneimittelgesetzes wird die Situation eher verschlechtern, da die Auflagen für die Medikamentenprüfungen verschärft werden“, so Seyberth. Die Zulassung wird damit teurer. Studien an Kindern, die sich schon heute für Pharmaunternehmen kaum rechnen, werden sich dann noch seltener auszahlen. Für solche Studien müssen in jeder Altersgruppe vom Baby bis zum Jugendlichen genügend Probanden gefunden werden. Das Immunsystem, die Knochen und die Nerven entwickeln sich schrittweise und durchlaufen verschiedene Entwicklungsstadien. Wenigstens fünf Altersgruppen müssen daher getrennt voneinander betrachtet werden.
Seyberth ist jedoch überzeugt, dass sich gerade bei schweren Leiden wie Tumoren oder Herz- und Nierenerkrankungen Kinder für Untersuchungen finden würden. Schließlich müssten die Eltern heute oftmals tatenlos zusehen, wie die Kleinen nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“ behandelt würden.
Dabei werden in den USA Medikamente an Kindern durchaus geprüft. Den Firmen winkt ein längerer Patentschutz als Belohnung. Aus mehr als vierhundert Studien konnten in Amerika wichtige Dosisempfehlungen abgeleitet werden, etwa für Beruhigungsmittel, blutdrucksenkende Mittel, ein Asthma- und ein Rheumamedikament. Die Erkenntnisse aus Übersee kamen auch hierzulande den Kindern zu Gute.