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Wenn die Welt schrumpft: Neue Trainingsansätze sollen bei einem Gesichtsfeldausfall die Sehfähigkeit zum Teil wiederherstellen

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Wenn die Welt schrumpft: Neue Trainingsansätze sollen bei einem Gesichtsfeldausfall die Sehfähigkeit zum Teil wiederherstellen
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Patientin beim Training am PC (Bild: NovaVision)
Menschen mit Gesichtsfeldausfall nehmen nur einen Teil ihrer Umgebung wahr. Therapien für diese Sehstörung, die den Alltag stark erschwert, gibt es jedoch wenige. Ein neuer Ansatz am heimischen PC soll nun helfen, den blinden Bereich zu verkleinern und den Patienten damit einen Teil ihrer früheren Fähigkeiten zurückzugeben. Von vielen Wissenschaftlern wird allerdings bezweifelt, ob diese so genannte visuelle Restitutionstherapie auch das hält, was sie verspricht.

„Seit deinem Schlaganfall grüßt du mich überhaupt nicht mehr!“ Solche und ähnliche Vorwürfe kennen die meisten Menschen, die unter einem so genannten Gesichtsfeldausfall leiden. Hinter der scheinbaren Unfreundlichkeit steckt ein ernsthaftes Gesundheitsproblem: Die Betroffenen sehen nur einen Teil dessen, was gesunde Menschen wahrnehmen.

Schuld daran sind nicht ihre Augen, sondern ihr Sehzentrum im Gehirn. Sterben dort nämlich etwa als Folge eines Schlaganfalls, einer Tumorerkrankung oder einer Verletzung Nervenzellen ab, kann das Gehirn die vom Auge kommenden Bilder nur noch zum Teil verarbeiten. Je nachdem, welcher Bereich betroffen ist, sieht man entweder nur noch eine Hälfte des Gesichtsfelds, oder es fehlen bestimmte Bereiche. Die Folge ist eine starke Einschränkung des Alltags, verursacht durch Orientierungslosigkeit, das ständige Übersehen von Gegenständen oder die Unfähigkeit, zu lesen.

„Der erste Behandlungsschritt ist normalerweise eine Reha-Maßnahme, in dem notwendige Verhaltensänderungen geübt werden“, erklärt die Therapeutin Dorothee Schlüter. Dabei lernt der Betroffene, bewusst in die Richtung zu blicken, in der sein Gesichtfeldausfall liegt. Im Gegensatz zur Rehabilitation bei Bewegungsstörungen oder Sprachproblemen, die ebenfalls häufig nach einen Schlaganfall auftreten, kann der Gesichtsfeldausfall durch diese Maßnahme jedoch nicht vermindert oder gar beseitigt werden. Sie hilft lediglich, das fehlende Sehen zu kompensieren, so dass man im Alltag besser zurecht kommt.

Seit einigen Jahren gibt es jedoch mit der so genannten visuellen Restitutionstherapie (VRT) eine neue, computerbasierte Behandlungsmöglichkeit. Die Idee dahinter: Geschädigte Nervenzellen am Rand des verletzten Bereiches sollen gezielt trainiert werden, so dass sie ihre Arbeit wieder voll aufnehmen.

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Zu Beginn der Behandlung wird dabei in einem von bundesweit über vierzig medizinischen Zentren eine genaue Diagnose gestellt. Gemessen werden die blinden Bereiche des Gesichtsfeldes und die, in denen Rest-Aktivität der zuständigen Nervenzellen vorhanden ist. „Auf der Basis dieser Ergebnisse erstellen wir dann ein individuelles Programm, das auch auf die Leistungsfähigkeit und die persönlichen Lebensumstände zugeschnitten ist“, berichtet Dorothee Schlüter, die bei der Entwicklerfirma NovaVision in Magdeburg für die Patientenbetreuung zuständig ist.

Durchgeführt wird die Therapie zu Hause am heimischen PC. Jeden Tag muss der Patient dazu insgesamt eine Stunde lang – aufgeteilt in mehrere Sitzungen – einen Punkt auf dem Monitor fixieren, während an anderen Stellen des Bildschirms immer wieder weiße Punkte aufleuchten. Sobald er diese Punkte wahrnimmt, muss er eine Taste drücken. Die Position der Punkte ist dabei so gewählt, dass sie genau die Nervenzellen im Sehzentrum stimulieren, die vorher als geeignet eingestuft wurden.

Alle vier Wochen werden die Ergebnisse ausgewertet und bei Bedarf an die erreichten Fortschritte angepasst. Insgesamt ist für die Therapie ein halbes Jahr angesetzt. Nach dieser Periode gibt es eine Abschlussuntersuchung, in der das Gesichtsfeld erneut vermessen wird. Nach eigenen Angaben erreichen die Magdeburger dabei eine hohe Erfolgsquote. So habe beispielsweise eine Studie mit 300 Patienten gezeigt, dass über 70 Prozent der Teilnehmer ihr Sehen messbar verbessern konnten und die Therapie nur bei 29 Prozent keinen Erfolg zeigte. „Am wichtigsten ist für uns, dass unsere Patienten erhebliche Sehverbesserungen im täglichen Leben erfahren und berichten“, erläutert Schlüter – und dies sei insgesamt wertvoller als die reinen Messdaten.

Die Kosten für die VRT liegen unabhängig von der Ausprägung der Erkrankung bei 2250 Euro – ein Betrag, den die meisten Patienten selbst aufbringen müssen. „Einige Kassen sind aber auf Antrag bereit, die Therapie zu bezahlen, besonders bei jüngeren Patienten“, erklärt Schlüter. Auch gibt es ein Modellvorhaben mit der AOK Sachsen-Anhalt, in der eine generelle Kostenübernahme von der Kasse geprüft wird.

Allerdings gibt es unter Wissenschaftlern Zweifel über die von NovaVision angeführten Erfolge. So ist der Tübinger Arzt Jens Reinhard, der zusammen mit einigen Kollegen von der Universitäts-Augenklinik die Ergebnisse der Therapie in einer eigenen Studie überprüft hat, in Bezug auf den Erfolg der VRT deutlich skeptischer. „Die Bewertung war subjektiv tatsächlich überwiegend positiv. Der objektiv messbare Effekt war aber äußerst gering“, erklärt er.

Selbst in den wenigen Fällen, in denen eine Verbesserung in der Gesichtsfelduntersuchung festgestellt werden konnte, bleibt Reinhards Ansicht nach die Relevanz im Alltag fraglich. Er empfiehlt eher: „Versuchen Sie, so viele Tätigkeiten wie möglich wieder aufzunehmen, auch wenn es schwerfällt. Und Lesen ist extrem wichtig. Wenn man viel liest, kann man im Lauf der Zeit häufig wieder eine annähernd normale Lesegeschwindigkeit erreichen“. Falsch sei es dagegen, sich zurückzuziehen und zu sagen „Da kann man ja doch nichts machen“.

ddp/wissenschaft.de – Ilka Lehnen-Beyel
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