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Geballte Botschaft

Allgemein

Geballte Botschaft
Die Faust ist zugleich elementare Waffe und gesellschaftliches Symbol – von der Steinzeit bis zur Arbeiterbewegung.

Kriminalgericht Berlin-Moabit im November 1992. Der vormals mächtigste Mann der DDR, Erich Honecker, muss sich für die Toten an der innerdeutschen Grenze verantworten. Der greise Mann steht ganz allein vor der Richterbank. Erhobenen Hauptes reckt er den rechten Arm, die Faust zum Gruß geballt. Eine Geste, die deutlich machte: Honecker wollte die Zeichen der Zeit nicht erkennen. Denn die mit der Vorderseite nach vorn geballte Faust war in Deutschland spätestens mit dem Ende des so genannten Arbeiter- und Bauernstaates nur noch ein bedeutungsloses Relikt.

Als Sinnbild für den Arbeiter und seinen politischen Willen war zunächst die Hand in die Ikonographie des 19. und 20. Jahrhunderts gelangt, so Gottfried Korff. Der Tübinger Professor vom Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft ist einer der wenigen Ethnologen, die der Vergangenheit auf die Hand geschaut haben. „Sie ist Symbol derer, die durch den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel auf die Bühne der Geschichte gekommen sind“, sagt Korff. „Die Hand offenbart die Nähe zur Werktätigkeit. Sie ist mehr als nur ein organisch-muskulöses Greifinstrument, für das die biologische Grundausstattung gesorgt hat.“

Als politisches Symbol tritt die Hand im Umfeld der Revolution von 1848 auf den Plan. Das Bild von ineinander verflochtenen Verbrüderungshänden wird zum Erkennungszeichen der jungen organisierten Arbeiterschaft. Der kraftvolle Handschlag bezeugt das neue Selbstwertgefühl der Arbeiter, ihre Brüderlichkeit und Solidarität untereinander. Doch die Gestik bleibt nicht friedfertig, wie Gemälde aus der Zeit verraten. Europaweit tobt im letzten Viertel des 19.Jahrhunderts die erste große Streikwelle. Geballte Fäuste, kampfbereit emporgereckt, bekräftigen die lautstarken Forderungen der Arbeiter nach besseren Arbeitsbedingungen und mehr sozialer Absicherung.

„Der Strike“, ein Gemälde des Deutsch-Amerikaners Robert Köhler, wird zum Kultbild der Arbeiterbewegung. Es zeigt eine erzürnte Menschenmenge, die protestierend und gestikulierend aus einer Fabrik zum Haus des Besitzers stürmt. Ein paar Arbeiter heben den Arm mit der geballten Faust. „Mit diesem Symbol setzten die Künstler dieser Epoche das Proletariat ins Bild“, sagt Volkskundler Korff. „Die Sprengkraft der sozialen Frage lässt sich mit der geballten Faust darstellen. Wo den Menschen Recht und Würde vorenthalten werden, drängt die Wut zur motorischen Reaktion.“

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Dass Zorn im Spiel ist, wenn die Hand sich zur Faust ballt, hätte Künstler Köhler bereits nachlesen können. Wenige Jahre zuvor hatte Charles Darwin sich ausführlich mit den Ausdrucksformen von Emotionen befasst. Der englische Naturforscher hatte beobachtet und beschrieben, was – zumindest bei Europäern – eines der typischen Merkmale von Wut ist. „ Gebärden wie das Erheben der Arme mit geballten Fäusten, als wollte man den Beleidiger schlagen, sind sehr häufig“, so Darwin in seiner Abhandlung, die 1872 unter dem Titel „Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren“ auf Deutsch erschien. Nur „wenige Menschen in großer Leidenschaft … können dem Triebe widerstehen, derartige Gebärden zu machen, als beabsichtigten sie, den anderen zu schlagen oder heftig hinwegzutreiben.“

Eine Erklärung für dieses Verhalten hatte Darwin ebenfalls parat: Rast ein Mensch vor Zorn, steigt seine Herzfrequenz, um ihn auf starke körperliche Anstrengungen vorzubereiten. „Das gereizte Gehirn gibt den Muskeln Kraft und gleichzeitig dem Willen Energie“, so der Evolutionspapst. Untersuchungen amerikanischer Wissenschaftler um den Psychologen Robert Levenson von der University of California in den achtziger und neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts haben Darwins These bestätigt: Unterschiedliche Emotionen erzeugen unterschiedliche Muster körperlicher Veränderungen. Wut, so die Wissenschaftler, führt – anders als Kummer oder Angst – den Händen Blut zu.

Wer provoziert wird und in Rage gerät, ballt fast zwangsläufig die Faust – eine Geste, die keiner Worte bedarf, weltweit verstanden wird und überdies uralt ist. Prof. Roland Posner, Gründer und Leiter der Arbeitsstelle für Semiotik (Lehre von den Zeichen) der Technischen Universität (TU) Berlin, und sein Mitarbeiter Massimo Serenari fanden die Faust und ihre unterschiedliche Verwendung schon auf 2000 bis 3000 Jahre alten griechischen Vasenbildern – mal sportlich als Faustkampf, mal siegreich geballt oder auch als Geste der Drohung.

Gestenforscher Serenari hält das Ballen der Hand zur Faust sogar für noch deutlich älter. Denn die Faust ist die natürlichste und elementarste Waffe des Menschen. In ihr sind nicht nur die Kräfte der ganzen Hand, sondern auch des Armes gebündelt. Aus dem tatsächlichen Gebrauch der Faust als Schlagwaffe hat sich im Laufe der Zeit die Drohgebärde entwickelt. So reicht es häufig, die geballte Faust zu zeigen, um den Feind in die Flucht zu schlagen. Mit großer Wahrscheinlichkeit hat schon der Homo neanderthalensis vor 30000 bis 150000 Jahren die Faust geballt, wenn ein anderer seine Höhle, seine Frau, seine Vorräte oder sein überlebenswichtiges Feuer begehrte.

Auch der Faustkeil, das vermutlich älteste Werkzeug der Menschheit, trägt nicht zufällig seinen Namen, so die Semiotiker. Die Steine, häufig aus Quarzit oder Feuerstein, sind überwiegend so bearbeitet, dass die Finger sich um sie legen, als wollten sie eine Faust machen. Der Faustkeil war ein echtes Multifunktionswerkzeug: Er diente zum Hacken, Schneiden, Schlagen und zum Zerlegen der Jagdbeute. Und wehe, der Neandertaler tobte vor Wut – dann wurde der Stein in der Faust zur schlagkräftigen Waffe gegen den Widersacher.

„Die Verwendung der Faust als Waffe und damit auch als Drohgebärde ist angeboren und hat sich nicht kulturell entwickelt“ , sagt der Berliner Semiotiker Serenari. Ein Blick ins hoch entwickelte Tierreich scheint dies zu bestätigen. Gorillamännchen drohen ihren Feinden, indem sie sich zu voller Größe aufrichten und mit hohlen Fäusten gegen die eigene Brust hämmern. Der furchterregende dumpfe Ton ist meilenweit zu hören. Verstummt das Trommeln, geht es wild zur Sache: Das Männchen rennt einige Schritte zur Seite, schmeißt sich auf alle Viere nieder, bricht in rasendem Tempo nach vorne aus und schlägt auf alles ein, was ihm in die Quere kommt. Selbst die Familienmitglieder sind nicht vor ihm sicher. Dieses eindrucksvolle Imponiergehabe soll meist nicht mehr bedeuten als „nimm dich in Acht“ – wirklich kämpfen will der Menschenaffe nur selten. Während der Gorilla nur die eine – ihm angeborene – Verwendung der Faust als Demonstration von Stärke und Macht kennt, ist die geballte Hand für den Menschen mehr und mehr zum Symbol geworden. Zwar fliegen in handfesten Auseinandersetzungen auch heute noch die Fäuste. Prinzipiell aber herrscht Konsens darüber, dass Faustschläge außerhalb des Boxrings auch oberhalb der Gürtellinie tabu sind.

Losgelöst vom ursprünglichen Kampf um das Recht des Stärkeren hat sich der Mensch ein reichhaltiges Repertoire an Faust-Gesten zugelegt. Massimo Serenari kennt sie wohl alle. Der TU-Wissenschaftler arbeitet mit Kollegen seit Jahren am „Berliner Lexikon der Alltagsgesten“ (bild der wissenschaft 6/2002, „ Vieldeutige Fingerspiele“). Das ehrgeizige Projekt wird nicht nur sämtliche mitteleuropäischen Gesten katalogisieren, sondern auch deren Bedeutung und Herkunft benennen. Nachzulesen ist in diesem Werk demnächst zum Beispiel, dass die Faust neben Stärke, Aggression und Drohung auch Jubel und Freude über einen sportlichen Erfolg oder Männlichkeit und Fertilität symbolisiert.

Auch einen Eintrag zur politischen Spielart der Faust wird es geben. In der Weimarer Republik nämlich wurde sie zu dem Symbol, das Erich Honecker meinte, als er vor dem Kadi stand: die Faust als sozialistisch-revolutionärer Gruß. Sie war seit Mitte der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts das Emblem des Rot-Front-Kämpferbundes, der Wehrabteilung der KPD. Bei Aufmärschen und Feiern grüßten die Kommunisten mit der erhobenen Faust. Im Spanischen Bürgerkrieg wurde sie international zum anerkannten Zeichen linker Bewegungen. Neben der ritualisierten Grußgeste war die geballte Faust auch psychologisch von Bedeutung: „Das Symbol schaffte Gemeinschaftsgefühl“, sagt der Tübinger Ethnologe Korff. „Über Zeichen, Bilder und Gesten werden kollektive Identitäten gebildet und gefestigt.“ Als Honecker 1992 der Prozess gemacht wurde, wollte er nicht wahrhaben, dass die Zeit des verordneten Kollektivs vorbei war – das symbolisierte seine geballte Faust.

Kathryn Kortmann

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