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Auf Zehenspitzen zum Weltrekord

Allgemein

Auf Zehenspitzen zum Weltrekord
Extremleistungen in der Tierwelt haben Menschen seit jeher fasziniert und zum Nachahmen animiert. Moderne Biomechanik und traditionelle morphologische Methoden erlauben neue Einblicke in den Bauplan des schnellsten aller Marathonläufer: dem Afrikanischen Strauß.

GroSSe Augen, federnder Gang, nun wird keck der Flügel geschüttelt. Imposant steht er vor mir, der größte aller Vögel. Doch da schnellt aus zweieinhalb Metern Höhe sein Schnabel herab, packt meine Mütze und flugs macht sich der Dieb davon. Ich spurte hinterher – ein sinnloses Unterfangen. Zwar sind auch wir Menschen gut zu Fuß: Olympioniken bewältigen in eineinhalb Stunden eine Strecke von 30 Kilometern. Doch mit konstantem Tempo 60 schafft der Strauß das in einem Drittel der Zeit. Mit Spitzengeschwindigkeiten bis 70 Stundenkilometer holt dieser bis zu 150 Kilogramm schwere Vogel fast die schnellsten seiner fliegenden Verwandten ein. Auch Bernhard Grzimek wusste: „Kein anderes Tier läuft so ausdauernd wie der Strauß“. So legt er große Distanzen zurück, um rasch neue Nahrungsgründe zu erreichen oder hungrige Hyänen abzuhängen. Wie schafft es der Strauß, allen anderen davonzulaufen?

Ein ausdauernder Läufer muss wie ein sparsames Auto Antriebsenergie möglichst verlustfrei auf einen effizienten Bewegungsapparat übertragen. Die Antriebsenergie wird dabei durch Stoffwechselvorgänge aus Nahrung und Sauerstoff gewonnen. Das nervengesteuerte Muskel-Skelettsystem der Beine setzt diese Energie dann gezielt in Fortbewegung um. Messungen des Sauerstoffverbrauchs haben ergeben, dass rennende Strauße nur zwei Drittel der Energie benötigen, die Vögel solcher Größe rein rechnerisch verbrauchen müssten. Wie der Fortbewegungsapparat diese Energie so sparsam umsetzt, war weitgehend unbekannt. Zwar existierten anatomische Beschreibungen sowie Laborbeobachtungen von Straußen auf Laufbändern. Man kannte also Einzelteile, nicht aber deren Funktion im Gesamtsystem. Mein Ziel war es, Form und Funktion gleichermaßen zu erforschen. Ich suchte Beinstrukturen, die Fortbewegung effizienter machen. Um mögliche Auswirkungen auf die Bewegungsdynamik zu erkennen, untersuchte ich parallel dazu lebende Strauße. Während der Ingenieur eine Maschine plant und dann zusammensetzt, musste ich den Strauß „demontieren“, um seine dynamischen Prozesse zu verstehen. Erst dann konnte ich die Teile in einen funktionellen Kontext stellen.

Die biologischen Methoden hierzu liefern die klassische Morphologie (die Gestalt- lehre) und die moderne Biomechanik (die Fortbewegungsanalyse lebender Systeme). Um natürliche Bewegungsabläufe untersuchen zu können, zog ich in einem großen Freigehege drei Strauße auf und gewöhnte sie langsam an mich und die dort installierten Messinstrumente. Für mein fächerübergreifendes Projekt kooperierte ich mit renommierten Morphologen des Forschungsinstituts Senckenberg, der Universität Heidelberg und Biomechanikexperten der Universität Antwerpen.

DER KNICK IM BEIn

Menschen sind Sohlengänger, Vögel gehen nur auf ihren Zehen. Dieser Unterschied ist wichtig, um die Bewegungsdynamik des Straußes zu verstehen. Der Mittelfuß ist stark verlängert und bildet analog zu unserem Schienbein den unteren Teil des Beins. Dadurch verschiebt sich das Fersengelenk nach oben auf Höhe unseres Knies, während der Unterschenkel auf Position des menschlichen Oberschenkels liegt. Das „Schwungbein“ besteht also aus Unterschenkel, Fersengelenk und Mittelfußknochen, weshalb es bei schreitenden Vögeln scheint, als ob das „Knie“ nach hinten einknickt. Das eigentliche Kniegelenk ist angewinkelt und wie der kurze, waagrechte Oberschenkel unter dem Federkleid verborgen.

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Zunächst habe ich die Beinsegmente verschiedener ans Laufen angepasster Vogelarten, vom hühnergroßen Roadrunner, über den 50 Kilogramm schweren Emu bis zum Strauß, vermessen und verglichen. Unter allen gefiederten Laufspezialisten besitzt der Strauß die relativ längsten Beine. Beim Rennen erreicht er Schrittweiten von bis zu vier Metern! Zudem befindet sich die Masse seiner Beinmuskulatur, mehr als bei den anderen Arten, weit oben an Becken und Oberschenkel, während das schwingende Bein am leichtesten ist und über lange Sehnen bewegt wird. Grundvoraussetzungen für hohe Laufgeschwindigkeit, große Schrittweite und -frequenz, hat der Strauß damit als Klassenbester erfüllt. Je länger das Pendel einer Wanduhr ist, desto weiter schwingt es. Schiebt man das Gewicht dann noch nah an den Drehpunkt, in diesem Fall das Hüftgelenk, erhöht sich auch die Frequenz, mit der das Pendel schwingt.

Ausdauernde Fortbewegung ist auch gekoppelt an verlustfreie Umsetzung von Muskelkraft. Hierzu sollte die Kraft vorrangig in den Vortrieb geleitet und der seitliche Bewegungsspielraum der Beingelenke unterdrückt werden. Gelenkigkeit ermöglicht es uns zwar, auf Bäume zu klettern, beim Geradeausrennen muss ein Mensch diese nun „unnötigen“ Freiheitsgrade aktiv durch Muskelkraft unterdrücken. Bänder können passiv, also energetisch „ kostenneutral“, Gelenkbewegungen limitieren, ähnlich einem Stützkorsett. Um den Anteil der Bänder an der Bewegungssteuerung zu ermitteln, filmte ich meine Strauße beim Laufen. Danach simulierte und filmte ich im Labor Beinbewegungen mit sezierten Gliedmaßen. Muskeln und Sehnen hatte ich entfernt, so dass nur Bänder die Gelenke zusammen hielten und als mögliche Richtungsgeber übrig waren. Die Auswertung der Filmsequenzen zeigte, dass der seitliche Bewegungsspielraum bei sezierten Beinen fast identisch mit dem lebender Strauße war. Es waren also vorrangig Bänder, die das Bein auf seinem steten Pendelkurs hielten. Muskelkraft wird somit auf Vorschnellen und Abstoßen des Beins konzentriert.

Die besondere Anordnung von Seitenbändern erzielte aber noch einen bisher völlig unbekannten Effekt: Bewegte ich den langen Mittelfußknochen, um das Fersengelenk zu beugen, musste ich einen Widerstand überwinden – sehr unerwartet bei einem leblosen Bein ohne aktive Muskulatur. Ließ ich den Knochen los, schnappte das Gelenk sogar automatisch in die Strecklage zurück. Beim lebenden Strauß ist das Fersengelenk, wie unser Knie, dann gestreckt, wenn die Zehen am Boden sind, das Bein also das Körpergewicht tragen muss. Für den schweren Strauß bedeutet das einen ständigen Kraftaufwand. Hielten Bänder das Bein passiv aufrecht, würde dies Muskelkraft sparen. Um zu ermitteln was die Bänder zur Gelenkstabilisierung beitragen, übte ich so lange Druck auf das stehende, sezierte Bein aus, bis das Fersengelenk einknickte. Dazu waren 15 Kilogramm nötig! Steht der Strauß auf beiden Beinen, entlasten Bänder die Beinmuskulatur um etwa 20 Prozent. Damit enthält dieser Mechanismus zwei entscheidende Strategien, die die Energieeinsparung bei der Fortbewegung erklären: Er reduziert Muskelkraft und in der Konsequenz Muskelmasse, was wiederum die Pendeleigenschaften des Beins verbessert.

Um auf Dauer schnell zu sein, ist es wichtig, Energieverluste auch am Boden gering zu halten. Dies wird durch Verringerung der Reibungsfläche erreicht. Darum sind die Reifen eines Rennrads wesentlich schmaler als die von Omas Drahtesel. Ein laufstarkes Tier verringert seine Reibungsfläche durch Zehenhaltung und -reduzierung. Das Pferd ist so weit gegangen, dass es nur noch auf dem Nagel seines Mittelfingers, dem Huf, galoppiert. Beim Strauß ist das ähnlich. Während die mit ihm verwandten Laufvögel, Emu und Nandu, drei und alle anderen Vögel vier Zehen nebst Krallen besitzen, hat der Strauß seine Zehenzahl auf zwei reduziert und nur eine Kralle behalten. Zudem ist er der einzige Vogel, der auf Zehenspitzen geht.

WIE BEIM ORTHOPÄDEN

Die Flächenersparnis ist beachtlich: Der Vergleich von Zehenabdrücken, die ich von Emus, Nandus und Straußen gesammelt hatte, zeigte, dass der Strauß eine 60 Prozent kleinere Zehenfläche hat. Somit sind die Energieverluste durch Reibung beim Strauß extrem gering.

Nun wollte ich herausfinden, wie die Zehen mit dem Boden interagieren. Dies hatte man bei lebenden Vögeln noch nie untersucht, eine etablierte Methode existierte also nicht. Ich ließ daher die Strauße über eine Druckmessplatte laufen, wie sie Orthopäden zur Analyse der Druckverteilung menschlicher Füße benutzen. Wie Stoßdämpfer federn die weichen Sohlen der Zehen auch hohe Drucke gleichmäßig ab. Dabei agiert die nach außen gerichtete Zehe wie eine Seitenstütze. Die Kralle, die beim Gehen kaum den Boden berührte, übte beim Rennen Drucke bis zu 40 Kilogramm pro Quadratzentimeter aus. Dadurch bohrt sie sich wie ein Spike in den Boden und gewährleistet, dass der Strauß auch bei 70 Stundenkilometer nicht die Bodenhaftung verliert. Der Gang auf Zehenspitzen und die besondere Zehenarchitektur erlauben ein Höchstmaß an Funktionalität bei minimalem Material- und Kosteneinsatz, ideal für ausdauerndes Laufen auf ebenem Savannenboden.

Das Fazit: Der Frage, wie es der Strauß schafft, so lange und so schnell zu rennen, sind wir einen Riesenschritt näher gekommen. Mit optimierten Pendeleigenschaften, passiver Gelenkstabilisierung und minimaler Reibungsfläche funktioniert sein Bewegungsapparat gemäß Energieeffizienzklasse A. Diese Strategien, perfektioniert in 60 Millionen Jahren, könnten heute in moderne Antriebssysteme umgesetzt werden. Denkbar wären „ intelligente“ Prothesen und zweibeinige, stabil laufende Roboter nach Straußenvorbild – die menschliche Variante geht nämlich noch auf sehr wackeligen Beinen. ■

von Nina Schaller

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