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Das Duell: Strings gegen Schleifen

Allgemein

Das Duell: Strings gegen Schleifen
Physiker auf der Suche nach den Fundamenten der Welt: Wie winzige Objekte Materie, Energie, sogar Raum und Zeit erschaffen können – und womöglich unzählige andere Universen.

Ein eisiger Wind fegt über das flache Ackerland bei dem kleinen Städtchen Golm, das letztes Jahr von Potsdam eingemeindet wurde. Außerhalb von Golm, mitten auf den Feldern, beginnt eine andere Welt. Eine gespenstische Welt, so will es scheinen. Denn dort fluktuieren geheimnisvolle Überlagerungen von Gewebestücken, deren Fasern alles, und zwischen denen nichts sein soll. Saiten schwingen in höchsten Tönen und erzeugen Objekte, von denen die Bevölkerung ringsum noch nie ein Wort gehört hat: Photinos, Gluinos, Winos und Zinos.

Aber auch die uns vertraute Welt ist eine Melodie der Strings. Und es wird noch seltsamer: Sechs oder sieben zusätzliche Dimensionen des Raums soll es geben, zusammengerollt – vornehmer: kompaktifiziert – wie dünnes Papier; mehrdimensionale Branen, die wie magische Leintücher in bizarr geformten Calabi-Yau-Räumen flattern; Moduli-Felder und geheimnisvolle Anti-DeSitter-Räume; instabile Vakua, sodass unser Weltall mit einem Wimpernschlag verschwinden könnte, und vielleicht sogar mehr Universen, als ein Mensch überhaupt zu zählen vermag. Dabei gehören diese Impressionen, die einen ahnungslosen Wanderer überrascht oder verstört hätten, zum Alltagsgeschäft einer kleinen, aber emsigen Gruppe von Forschern, die sich – die regengepeitschten Tage draußen beharrlich ignorierend – in dem luftig konstruierten Neubau des Max-Planck-Instituts für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut, AEI) getroffen haben.

Die Stimmung ist kooperativ, doch der Anlass kompetitiv. Denn so versöhnlich das Konferenzthema klingt – „Strings Meet Loops“ –, so hart geht es zur und um die Sache. Und zwar buchstäblich ums Ganze: das All und seine Grundfesten. Zwei inzwischen weit entwickelte theoretische Ansätze ringen darum, die Fundamente der Wissenschaft tiefer zu legen. Die Allgemeine Relativitätstheorie und die Quantentheorie sind zwar die beiden unangefochtenen Säulen, die das prachtvolle Gebäude der gegenwärtigen Physik tragen. Doch auf kleinen Raum-Zeit- und hohen Energie-Skalen vertragen sie sich nicht. Um sie zu versöhnen, bedarf es einer noch kühneren Theorie. Und diese soll – Physiker dürfen ja manchmal unbescheiden sein – auch gleich noch die grundlegenden Naturkräfte vereinheitlichen und die Rätsel des Urknalls und der Schwarzen Löcher lösen.

Stringtheorie und Quantengeometrie (auch Theorie der Schleifen-Quantengravitation oder „loop quantum gravity“ genannt) heißen die beiden Kontrahenten. Sie verfolgen auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichen Ergebnissen diese Ziele. Hunderte der begabtesten Physiker weltweit haben sich diesem Projekt angeschlossen – und dafür sogar neue mathematische Methoden entwickelt. Denn in dem unbekannten Gelände gibt es keine Trampelpfade, und schon gar keinen Königsweg. So schlagen sich die Wissenschaftler durch einen exotischen Dschungel – ohne Garantie, sich dabei nicht kolossal zu verirren. Handfeste experimentelle Beweise kann noch niemand vorlegen. Doch bizarre Entdeckungen wurden schon vielfach gemacht – und dabei gar manche prächtige Frucht gefunden. Trotzdem sind sich die String- und Quantengeometrie-Forscher nicht immer grün.

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„Es gibt eine gewisse Sprachlosigkeit zwischen den beiden Lagern, die wir überwinden wollen. Denn allen täte es gut, manchmal über die Probleme aus der Perspektive der anderen nachzudenken“, sagt Hermann Nicolai, Direktor am AEI. Diese Kommunikation zu fördern und die jeweiligen Leistungen und Schwächen zu inspizieren, war die Hauptmotivation des Meetings. Abhay Ashtekar, der mit Nicolai das Treffen organisiert hat, stimmt zu und ergänzt: „Es gibt einige Missverständnisse auszuräumen. Und das Wichtigste: Wir sollten voneinander lernen.“

Ashtekar, heute Physik-Professor an der Pennsylvania State University und Direktor des dortigen Center for Gravitational Physics and Geometry, hat zusammen mit Lee Smolin, Carlo Rovelli und anderen die Quantengeometrie entwickelt (bild der wissenschaft 12/2003, „Jenseits von Raum und Zeit“). Danach sind Raum und Zeit nicht fundamental und unabhängig von der Materie – also keine Hintergrundmetrik, wie die Physiker sagen –, sondern aus elementareren Objekten aufgebaut, die Spin-Netzwerke („spin networks“) oder auch Schleifen („loops“) genannt werden. Sie bilden ein engmaschiges Gewebe mit „Lücken“ dazwischen, in denen buchstäblich nichts ist. Auch kein leerer Raum, denn der Raum ist gleichsam erst aus den Fäden des Netzes entstanden und erscheint nur homogen aus unserem unscharfen, großzügigen Blickwinkel – ähnlich wie sich die Bilder auf diesen Seiten bei genauerer Betrachtung nicht als glatt und zusammenhängend, sondern als gerasterte Punktmuster erweisen. Anregungsformen der Spin-Netzwerke – veränderliche Zustände der Linien und Knoten – bauen gleichsam die Materie und Energie im Universum auf. Auch die Naturkräfte „leben“ auf diesem Geflecht. Und die Zeit kommt, so zumindest eine Vorstellung, durch winzige Umgruppierungen im Spin-Netzwerk zustande. So ergibt sich das Bild der Spin-Schäume („spin foams“).

„Ein Spin-Netzwerk stellt gleichsam einen Schnitt durch den Spin-Schaum dar, eine Art Momentaufnahme“, erklärt Robert Oeckl von der Universität Mexiko. „Umgekehrt kann der Spin-Schaum als zeitliche Entwicklung eines Spin-Netzwerks begriffen werden. Kleinste Teile des Spin-Schaums entsprechen dann Raumzeit-Atomen. Demnach wäre auch die Zeit diskret. Freilich sind die ,Takte‘ der Zeit lokal – das Universum läuft nicht überall in simultanen Zeitschritten ab.“ Die Stringtheorie ist dagegen viel weniger radikal. Oeckl: „In störungstheoretischen Ansätzen der Quantengravitation, und dazu gehört die Stringtheorie, wird die Metrik in einen Hintergrund-Anteil zerlegt, der den euklidischen Raum charakterisiert, und in einen zweiten Anteil, der Fluktuationen dieses Raumes beschreibt. Ein großes Defizit ist, dass die Ursache-Wirkungs-Struktur dabei als statisch angenommen wird, obwohl sie in Wirklichkeit dynamisch durch die Schwerkraft verändert wird.“

Diese Schwierigkeit besitzt die Quantengeometrie nicht – aber das hat einen Preis: „Stellen Sie sich vor, es gäbe weder Raum noch Zeit im Hintergrund und keine Leinwand, um die Dynamik des physikalischen Universums darauf zu malen. Stellen Sie sich ein Schauspiel vor, bei dem die Bühne in der Schauspielertruppe mitmacht. Stellen Sie sich einen Roman vor, in dem das Buch selbst eine Hauptperson ist…“ Abhay Ashtekar kann die Fantasie seiner Zuhörer enorm strapazieren. Und er weiß, wie man den Dingen auf den Grund geht – das heißt so tief ins Gefüge der Welt hineinblickt, dass sich im grellen Scheinwerferlicht der Theorie Raum und Zeit buchstäblich auflösen. „Ja, man kann auch dann noch Physik betreiben, ohne die mathematische Genauigkeit zu opfern.“

Ashtekar kommt immer wieder auf Albert Einstein zurück, dessen Erbe er angetreten hat, und dessen Allgemeine Relativitätstheorie es zu erweitern gilt. „Einstein lehrte uns im Rahmen der klassischen Physik, wie man die Gravitationsfelder in den Stoff der Raumzeit selbst einweben kann. In seiner Theorie gibt es keine Hintergrund-Raumzeit, keine unbeeinflussbare Bühne, keine Zuschauer im kosmischen Tanz. Mit ihrer Schwerkraft sagt die Materie der Raumzeit, wie sie sich zu krümmen hat, und die Raumzeit sagt der Materie umgekehrt, wie sie sich bewegen muss. Doch die klassische Physik ist unvollständig. Sie ignoriert die Quantenwelt. Können wir Einsteins geometrische Welt mit der Quantenphysik verbinden, ohne ihre Seele zu rauben? Können wir Einsteins Vision auf Quantenebene realisieren?“

Noch in den siebziger Jahren hätte fast jeder Theoretische Physiker diese Frage verneint. Doch inzwischen gibt es bessere Gründe dafür, eine brauchbare Theorie der Quantengravitation zu finden.

„Jede große und tiefe Schwierigkeit birgt in sich ihre eigene Lösung“, hat Amitabha Sen den Physik-Nobelpreisträger Niels Bohr zitiert – und 1981 als Student an der University of Chicago eine neue mathematische Beschreibung in die Physik eingeführt, mit deren Hilfe Ashtekar Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie in einer neuen, äquivalenten Sprache auszudrücken verstand. Das war die Basis für die Entwicklung der Quantengeometrie.

„Hier ist der Raum nicht kontinuierlich, sondern ähnelt Atomen“ , sagt Lee Smolin vom Perimeter Institute im kanadischen Waterloo. Diese diskrete Struktur ist durch die Planck-Länge (10-33 Zentimeter) charakterisierbar. „Das kleinste mögliche Volumen ist ungefähr eine Kubik-Planck-Länge groß, 10-99 Kubikzentimeter. Die Theorie sagt also rund 1099 Volumen- Atome in jedem Kubikzentimeter voraus. Dieses Quantenvolumen ist so winzig, dass es mehr Raumquanten in einem Kubikzentimeter gibt als Kubikzentimeter im beobachtbaren Universum (1085).“ Konstituiert werden die Raum-Atome vom Spin-Netzwerk. Smolin: „ Könnten wir ein detailliertes Bild des Quantenzustands unseres Universums zeichnen, wäre es ein riesiges Spin-Netzwerk mit einer unvorstellbaren Komplexität und ungefähr 10184 Verbindungspunkten.“

Hermann Nicolai zeigt sich von der Quantengeometrie freilich nur bedingt beeindruckt. Jenseits des mathematischen Formalismus sei völlig unklar, ob diese Theorie wirklich alle wesentlichen physikalischen Merkmale der Einstein’schen Theorie in die Quantentheorie hinüberretten könne. Zu viele Aspekte im mathematischen Formalismus seien noch nicht geklärt. Außerdem will die Quantengeometrie ja in erster Linie nur die Schwerkraft beschreiben. Die Theorie der Materie wird gleichsam von Hand hinzugefügt, nicht aber aus tieferen Prinzipien erklärt. „Die Stringtheorie ist hier ein erhebliches Stück ehrgeiziger, weil sie nicht nur die Gravitation korrekt beschreiben, sondern auch noch den Ursprung der Materie erklären will“, erläutert Nicolai. „ Wobei der grundlegende Widerspruch ist, dass die Stringtheorie sagt: Es geht prinzipiell nicht ohne Materie-Wechselwirkungen, um die Theorie der Quantengravitation widerspruchsfrei zu machen. Und die Vertreter der Quantengeometrie sagen: Nein, wir versuchen einfach, Einsteins Relativitätstheorie in eine konsistente Quantentheorie der Gravitation zu überführen.“ Nicolai, der nach eigenen Worten „auf beiden Seiten des Zauns“ gearbeitet hat, ist mit dieser Situation nicht zufrieden. „Dieser Widerspruch muss sich irgendwann auflösen.“ Und er hält mit seinen Vorlieben nicht zurück: „Ich persönlich neige mehr der Stringseite zu. Es muss einen Grund geben, warum Materie in der Welt existiert.“

Die Stringtheorie fasst die Elementarteilchen als Anregungsformen winziger schwingender Fäden auf und kann im Gegensatz zur Quantengeometrie alle vier Naturkräfte einheitlich beschreiben. Ihr Nachteil: Sie lässt sich nur in neun oder zehn Raumdimensionen formulieren. (Genau genommen gibt es fünf verschiedene zehndimensionale Stringtheorien und eine elfdimensionale Supergravitationstheorie. Sie haben sich allesamt als eng verwandt erwiesen und werden inzwischen nur als Randbereiche einer umfassenden, noch weitgehend unbekannten Supertheorie aufgefasst, die der Stringobertheoretiker Edward Witten vom Institute of Advanced Study in Princeton M-Theorie genannt hat.)

Angesichts ihrer Abstraktheit und Exotik ist es verwunderlich, welche große Resonanz die Stringtheorie hat. Letztes Jahr haben es die höherdimensionalen Calabi-Yau-Räume sogar in den „New Yorker“ geschafft, wo Woody Allen sie humoristisch in der Schilderung einer Büro-Affäre verwurstet hat. Auch in der akademischen Welt dürfte die Community der Stringtheoretiker zahlenmäßig mindestens zehnmal so stark sein wie die der Quantengeometriker.

„Das liegt daran, dass die Stringtheorie die Standardverfahren der Quantenfeldtheorie verwendet, die freilich eine Hintergrundmetrik voraussetzen. Die Quantengeometrie dagegen ist neu und anders als alles andere. Man braucht viel Zeit, um eine neue Intuition zu entwickeln“, sagt Jerzy Lewandowski von der Universität Warschau, der am Albert-Einstein-Institut eine andere Art der Vereinheitlichung in der Quantengeometrie betont hat: „ Alle Kräfte ,leben‘ auf dieselbe Weise im Spin-Netzwerk und werden in der Quantengeometrie auch auf dieselbe Weise beschrieben – selbst wenn sie nicht vereinheitlicht sind, wie in der Stringtheorie.“

Ashtekar vermutet noch einen anderen, soziologischen Grund für die zahlenmäßige Vorherrschaft der Stringtheoretiker: Es gibt einfach viel mehr Teilchenphysiker als Relativitätstheorie-Forscher. „Die Stringtheorie begann als natürliche Fortsetzung der Störungsrechnungen der Quantenfeldtheorie, die so große Erfolge in anderen Gebieten hat.“ Und da, so könnte man spekulieren, etliche Teilchenphysiker in den letzten Jahren nicht viel zu tun hatten, weil das Standardmodell der Materie glänzend bestätigt ist und neue Energiebereiche erst mit den Beschleunigern der nächsten Jahre erschlossen werden können, mussten sie sich zwangsläufig ein neues, spektakuläreres Forschungsfeld suchen.

„In der Geschichte der Physik hat es noch nie eine so umfassende kollektive intellektuelle Anstrengung gegeben“, sagt Nicolai über die Stringtheoretiker. Verglichen damit sind – abgesehen von viel hochkarätiger Mathematik – die Ergebnisse freilich mager. „Die Situation zeigt eben, dass die Natur noch immer einen Tick raffinierter ist, als wir es sein können.“

Brian Greene, Autor des Bestsellers „Das elegante Universum“, hat in einem Interview kürzlich Ähnliches geäußert: „Welche Idee am Gipfel herauskommt, wissen wir noch nicht. Wenn wir sie haben, wird sie wie ein Leuchtfeuer herabscheinen und das ganze Gebäude der Physik erhellen.“

Für andere Wissenschaftler ist das noch reines Wunschdenken, zumal sich die Stringtheorie bei allem intellektuellen Aufwand bislang nicht gerade durch physikalische Anwendungen und überprüfbare Voraussagen Meriten erworben hat – sondern anscheinend sogar mit ganz unterschiedlichen Daten zurande kommen könnte. „Alle Stringtheorien haben mindestens eines der folgenden Merkmale, die unseren Beobachtungen widersprechen: keine Dunkle Energie im All, keine Symmetriebrechung der Kräfte, die Existenz so genannter masseloser Skalarfelder“, stichelt etwa Lee Smolin.

„Was ist die Güte einer Theorie, die mit allem vereinbart werden kann, auch mit dem Gegenteil von allem?“, lässt Carlo Rovelli von der Universität Marseille eine aufgeweckte Quantengeometrie-Studentin einem Stringtheorie-Professor widersprechen. „Unsere Argumente müssen sich auf die Welt beziehen, die wir erfahren, und nicht auf eine Welt aus Papier.“ Dieser Satz steht bereits in der Schrift „Vier Dialoge über zwei Hauptsysteme der Welt“ (1632) von Galileo Galilei, den sich Rovelli als Vorbild für einen ebenfalls fiktiven, aber umso gepfefferteren „Dialog über Quantengravitation“ (2003) genommen hat. Darin führen die Studentin und der Professor den galileischen Schlagabtausch in neuem Gewand fort.

Genüsslich seziert Rovelli die Schwachstellen und uneingelösten Versprechungen der Stringtheorie. „Die Geschichte der Wissenschaft ist reich an schönen Ideen, die sich später als falsch herausgestellt haben. Die Bewunderung für die Mathematik sollte uns nicht blenden. Trotz der enormen Geisteskräfte der Stringtheoretiker vergehen die Jahre, und die Theorie liefert noch immer keine Physik. Alle Hauptprobleme sind offen, und die Verbindung zur Realität wird immer geringer.“

So hart würde Nicolai nicht urteilen. „Hier sehe ich zwar auch eine gewisse Gefahr. Insbesondere glaube ich nicht, dass die Stringtheorie noch weitere 20 Jahre ohne eine definitive und experimentell verifizierbare Vorhersage überleben kann.“ Doch dieses Problem hat auch die Quantengeometrie. „Die Quantisierung von Flächen und Volumina auf der Planck-Skala wird sich noch weniger nachweisen lassen als die von Stringmodellen geforderten supersymmetrischen Teilchen in Beschleuniger-Experimenten.“

„Entweder besteht alle Materie aus Strings, oder die Stringtheorie ist falsch“, spitzt es Leonard Susskind zu. „Das ist eine der aufregendsten Merkmale der Theorie. Die Stringtheorie kann entweder eine Theorie von Allem sein, oder sie ist eine Theorie von nichts.“ Der Physik-Professor von der kalifornischen Stanford University ist einer der Väter der Stringtheorie, ohne ihr freilich sklavisch ergeben zu sein. „Die letzte Bewertung der Stringtheorie wird auf der Fähigkeit beruhen, die Tatsachen der Natur zu erklären, nicht auf ihrer eigenen inneren Schönheit und Konsistenz. Die Stringtheorie ist in ihrem vierten Jahrzehnt, aber bislang hat sie nicht ein detailliertes Modell der Elementarteilchen oder eine überzeugende Erklärung kosmologischer Beobachtungen vorgelegt.“

Letztes Jahr hat Susskind seine Kollegen mit allerhand unangenehmen Vorträgen traktiert. So gab es lange Gesichter, als sich so ziemlich alles, was in der Kosmologie Rang und Namen hat, im kalifornischen Davis traf, um die neuen Messungen von der Frühzeit des Universums zu feiern (bild der wissenschaft 8/2003, „ Das erste Licht“). Susskind schockierte seine Zuhörer nämlich mit einer Zahl, die selbst die Forscher beunruhigte, für die große Zahlen beruflicher Alltag sind. 10100 oder gar 10200 verschiedene Vakua würde die Stringtheorie voraussagen oder erfordern – mindestens. Mit anderen Worten: Die Stringtheorie hat astronomisch viele physikalische Lösungen, und jede könnte einem Universum mit eigenen Naturgesetzen und -konstanten entsprechen. Wenn die Physiker Glück haben, ist eine Lösung darunter, die unserem Universum entspricht. Aber nicht einmal das ist gewiss.

„Das Problem ist nicht die Armut an Reichtum, sondern das Gegenteil: Die Stringtheorie enthält zu viele Möglichkeiten“, resümiert Susskind. „Für die meisten Physiker ist die ideale physikalische Theorie eine, die einzigartig und perfekt ist, sodass sie alles determiniert, was sich determinieren lässt, und die logisch nicht anders sein kann. Mit anderen Worten: Sie ist nicht nur eine Theorie von Allem, sondern die einzige Theorie von Allem. Für den orthodoxen Stringtheoretiker ist das Ziel, die eine wahre konsistente Version der Theorie zu entdecken und zu zeigen, dass die Lösung die bekannten Gesetze der Natur ergeben – wie das Standardmodell der Materie.“

Stattdessen sind die Stringtheoretiker auf eine gewaltige Landschaft gestoßen, die sie augenzwinkernd „Stringschaft“ nennen, einen ungeheuer komplexen Raum von Möglichkeiten. „Um die Metaphern zu vermischen: Es ist ein fantastischer Heuhaufen, der unzählige Strohhalme und nur eine Nadel enthält. Noch schlimmer: Die Theorie gibt uns keinen Hinweis, wie sich aus diesen Möglichkeiten die passende Lösung auswählen lässt.“

Immerhin bekommt die Stringschaft Unterstützung von den Kosmologen, die im Rahmen des Modells von der so genannten ewigen Inflation auch eine Vielzahl unterschiedlicher Universen annehmen (bild der wissenschaft 12/2001, „Modell Klassik“). Susskind: „Die enorme Zahl der Möglichkeiten der Vakuumlösungen, die der Fluch der Teilchenphysiker ist, könnte gerade das sein, was der Doktor für die Kosmologie verordnet.“

Auch Michael Douglas von der Rutgers University versucht, aus der Not eine Tugend zu machen. Auf der „Strings Meet Loops“ -Konferenz hielt er via Internet- Video einen transatlantischen Vortrag, der sehr kontrovers diskutiert wurde. Douglas geht ebenfalls von mindestens 10100 verschiedenen String-Vakua aus. (Vor 20 Jahren wurden sogar schon einmal 101500 genannt, was Douglas aber für „indiskutabel“ hält. Worauf sich Hermann Nicolai zu dem sarkastischen Vergleich mit der mittelalterlichen Theologen-Diskussion über die Zahl der Engel auf einer Nadelspitze hinreißen ließ.) Aber er denkt an bestimmte Auswahlprinzipien, mit deren Hilfe die Stringtheoretiker die für unsere Welt interessanten Lösungen aus der Fülle der Möglichkeiten herausfischen könnten. Douglas arbeitet sogar an statistischen Methoden, die Stringschaft gleichsam nach markanten Geländeformationen zu durchforsten und die Struktur der Stringtheorie selbst genauer zu erkunden.

Spötter sehen das als vergebliche Liebesmüh, solange weder klar ist, ob überhaupt ein „realistisches“ Universum geboten ist – oder ob es nicht sogar unendlich viele Vakua gibt, sodass eine überprüfbare Physik gar nicht möglich ist.

Susskind hat das „Anthropische Prinzip“ bemüht: Wir brauchen uns nicht zu wundern, warum wir gerade in unserem Universum leben, denn in fast allen anderen herrschen Bedingungen, in denen wir nicht existieren könnten – weil es dort beispielsweise keine Sterne gibt. Douglas ist zurückhaltender: „Die gültige physikalische Theorie muss beschreiben, was wir beobachten. Ob sie erklären kann, warum wir es beobachten, ist eine andere Frage. Anthropische Argumente sind interessant, spielen aber keine zentrale Rolle für die fundamentale Physik.“

Ein möglicher Griff in den Heuhaufen, um die sprichwörtliche Nadel zu finden, ist einer Gruppe von Physikern um Shamit Kachru von der Stanford University geglückt. Mit einigen Tricks gelang es ihnen, ein Stringvakuum zu finden, das mit dem Vakuumzustand unseres Universums zumindest eine gewisse Ähnlichkeit besitzt. Fernando Quevedo von der University of Cambridge und seine Kollegen haben inzwischen weitere solche „DeSitter-Räume“ in der Stringtheorie aufgespürt, die zwar noch nicht realistisch sind, aber immerhin eine positive Kosmologische Konstante besitzen, wie sie für die beobachtete beschleunigte Ausdehnung des Weltraums in Frage kommt (bild der wissenschaft 8/2003, „Phantom-Energie zerreißt das Weltall“). Freilich: Wenn es so viele verschiedene Vakua gibt, dann besteht die Gefahr, dass unser eigenes Vakuum nur vorübergehend existiert, langfristig aber instabil ist und in ein energetisch niedrigeres zerfällt. Das wäre das Ende unseres Universums. Doch Quevedo beruhigt: „Solche Übergänge brauchen sehr lange – üblicherweise viel länger, als unser Universum bereits existiert.“

„Die Ehrfurcht vor der Mathematik hinter der Stringtheorie sollte uns nicht blenden. Trotz der enormen Geisteskraft, die die Forscher in sie gesteckt haben, liefert sie keine Physik. Alle Hauptprobleme sind ungelöst. Ich denke, es ist Zeit, auch einmal etwas anderes zu versuchen“, wirbt Rovelli für die Quantengeometrie. „Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder konstruieren wir die Quantenfelder von Grund auf neu wie in der Quantengeometrie. Oder wir machen Einsteins Entdeckung rückgängig und führen wieder einen fiktiven Hintergrundraum ein wie in der Stringtheorie. Dann ist die Relativitätstheorie nicht fundamental.“

Abhay Ashtekar ist versöhnlicher: „Beide Gruppen sind sich einig, dass die endgültige Theorie sowohl unabhängig von der Hintergrundmetrik sein soll als auch alle Naturkräfte vereinigen soll. Die Frage ist, mit was man beginnt und was man betont, um das Programm am Laufen zu halten.“ Lee Smolin, der auch in der Stringtheorie gearbeitet hat, sieht es ähnlich: „Für die Wissenschaft ist es am besten, wenn mehrere Perspektiven verfolgt werden, und wenn Forscher die Möglichkeit haben, mit unterschiedlichen Ansätzen ungelöste Probleme anzupacken.“ Brian Greene betont ebenfalls das Verbindende: „Vielleicht entwickeln wir dieselbe Theorie aus verschiedenen Blickwinkeln. Es ist möglich, dass die verschiedenen Routen zur Quantengravitation sich treffen. Es kann sich herausstellen, dass die Stärken der Quantengeometrie unsere Schwächen sind und umgekehrt.“

„Bevor man eine endgültige Bewertung abgeben kann, muss man erst einmal sehen, wie zum Schluss alles zusammenpasst. Für Einzelaspekte lassen sich immer irgendwelche Lösungen präsentieren“, sagt Hermann Nicolai und runzelt kritisch die Stirn. Trotz seiner Präferenzen für die Stringtheorie gibt er zu: „Das Ziel ist es, eine Theorie zu finden, die die gesamte Physik beschreibt. Schon Einstein hatte ja den Traum, all dies in eine Formel zu bringen, die auf ein Blatt Papier passt. Das ist auch der Traum der Stringtheorie – nur ist sie dort noch nicht angekommen.“ Die Quantengeometrie vermag dies freilich auch nicht. Und ob es mit vereinten Kräften gelingen kann, bleibt ebenfalls offen. Nicolai: „Ich bezweifle, dass sich die beiden Ansätze harmonisch in einer einzigen Theorie auflösen werden, denn sie gehen ja von diametral entgegengesetzten Annahmen aus. Aber es war ja gerade die Absicht unseres Meetings, die Unterschiede und Meinungsverschiedenheiten herauszustellen.“

Fest steht, dass Einsteins Traum noch nicht ausgeträumt ist. Der große Physiker hat die beiden Seiten seiner relativistischen Feldgleichungen – auf der einen Seite die Geometrie, auf der anderen die Materie – als „Marmor“ und als „Holz“ bezeichnet. Wie Einstein glauben auch Ashtekar und seine Kollegen, die Welt sei letztlich auf das steinerne Fundament der Geometrie gebaut und nicht auf das morsche Holz der Materie. Die Stringtheoretiker können dagegen mit ihren schwingenden Saiten dagegen beide Lieder erklingen lassen. Bleibt abzuwarten, wer den letzten Ton anschlägt – oder ob gar ein Dritter im Spiel nötig ist.

KOMPAKT

• Aus winzigen Fäden oder Netzen ist die Welt geflochten. Das ist die Annahme zweier kühner Theorien, die Einsteins Traum vollenden wollen: Die einheitliche Beschreibung aller Naturkräfte und die Erklärung von Raum und Zeit. • Nun sind die beiden führenden Ansätze für eine Theorie der Quantengravitation aufeinander geprallt: Strings gegen Schleifen. bild der wissenschaft berichtet vom Streit an der Forschungsfront.

Rüdiger Vaas

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