Mit ausgestreckter Hand bettelt Schimpansin Gwinnie ihre Kollegin Mai um ein Stück des Leckerbissens an, den diese gerade genüßlich verzehrt. Doch Mai bleibt kühl: Geizhals Gwinnie teilt nämlich selber nicht gerne. Und Mai hat ein gutes Gedächtnis: Wie du mir, so ich dir.
Wenn ein Schimpanse das Opfer eines Angriffs streichelt oder ein anderer, als unparteiischer Richter, Konflikte im Interesse des Gemeinschaftsfriedens ohne Rücksicht auf persönliche Freundschaften regelt, wenn behinderte Affen die besondere Fürsorge ihrer Horde genießen – geht es dann um Mitgefühl? Empfinden Tiere Recht und Unrecht, so wie wir? Anders ausgedrückt: Ist moralisches Empfinden am Ende nicht nur uns Menschen vorbehalten?
Der durch seinen Bestseller „Wilde Diplomaten“ bekannte niederländische Verhaltensforscher Frans de Waal geht in seinem neuen Buch dieser These nach – provozierend für alle, die den Menschen für das Luxusmodell der Evolution halten.
De Waal, Forschungsleiter am Yerkes Regional Primate Research Center, will den Philosophen die Moral aus den Händen nehmen, die sie bis heute als geistiges Phänomen werten, und sie der Wissenschaft übergeben. Sein Fazit: Moral ist älter als der Mensch und als Teil neurobiologischer Erscheinungen ein Produkt der Evolution. Darauf weist auch der – ausschließliche – Verlust moralischer Fähigkeiten nach bestimmten Hirnverletzungen hin. Fundamentale Bausteine moralischen Verhaltens finden sich laut de Waal auch bei anderen, verwandten Arten. Das ist biologisch sinnvoll: Mit den Menschenaffen etwa verbinden uns viele Jahrtausende gemeinsamer Entwicklung. Und: Nicht nur Kampf und Stärke, sondern auch gegenseitige Hilfsbereitschaft – etwa beim Teilen der Nahrung – können die Überlebens-Chancen erhöhen.
Kritik ist de Waal sicher, denn sein Thema birgt reichlich Diskussionsstoff. Vermenschlichung der Studienobjekte wird ein Vorwurf sein: Während Verhaltensbeschreibungen wie „Rivalität“ oder „Gier“ Biologen leicht von der Zunge gehen, sind „Freundschaft“ und ähnlich positive Begriffe vielen nicht ganz geheuer. Ein anderer Vorwurf wird lauten, daß die Trennlinie zwischen Tatsachen und Spekulationen manchmal etwas verwischt ist. Darauf weist der Autor allerdings hin und macht dazu ausführliche fachliche Anmerkungen.
Das ausgiebig bebilderte Buch des großen Primatenforschers bietet ein hochinformatives und spannendes Lesevergnügen. Was allerdings fehlt, ist ein Stichwort-Verzeichnis als Nachschlagehilfe.
Frans de Waal DER GUTE AFFE Hanser-Verlag München 1997 330 S., DM 49,80
Helga Brettschneider