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Der Herr der Ameisen

Allgemein

Der Herr der Ameisen
Er wurde als der Ameisenforscher bekannt. Er selbst bezeichnet sich als Soziobiologe. Sein Hauptziel ist es, die Evolution von sozialem Verhalten zu verstehen – von Ameisen und Menschen.

Wer in Bert Hölldoblers Büro im Biozentrum der Würzburger Universität sitzt, dem krabbelt schon mal eine Ameise über den Schreibblock. Sie kommt, so klärt der Professor auf, aus dem Raum nebenan. Hier hat er ein kleines Privatlabor, in dem er ein paar Ameisenstämme hält. Denn Hölldobler ist Myrmekologe, also Ameisenforscher, und zwar nicht nur irgendeiner, sondern „der Beste”, wie sein langjähriger Freund und Forschungspartner Edward O. Wilson, Professor an der Harvard University, meint. Hölldobler ist mit dieser Berufsbezeichnung nicht ganz zufrieden. „Ich bin Verhaltensphysiologe oder experimenteller Soziobiologe”, sagt er. „Ameisengesellschaften sind meine Modellsysteme, an denen ich soziales Verhalten untersuche.” Man bezeichne ja auch einen Biologen, der Genetik anhand der Drosophila untersuche, nicht als „Fliegenforscher”. Der Vergleich hinkt: Drosophila hat keinen „ Sex-Appeal” – aber schon Kinder sitzen fasziniert vor Ameisenstraßen. Und auch Hölldoblers Leidenschaft für Ameisen ist seit fünf Jahrzehnten ungebrochen. So lange stellt der heute 64-Jährige diesen „Workaholics der Evolution” bereits nach – in den Wäldern Finnlands ebenso wie in der Wüste Arizonas oder im Regenwald von Costa Rica. Schon als Schüler fesselte ihn, was lebt und sich bewegt. Im ländlichen Oberbayern geboren, verbrachte er seine Wochenenden auf Feldern und im Wald und sammelte. Anregungen kamen vom Vater, einem Arzt und Zoologen. Seiner Mutter ist er immer noch dankbar, dass sie seinen Sammeleifer klaglos ertrug. Er hielt Dohlen und einen Iltis, Fische und Salamander. Zahlreiche Glaskästen mit allen möglichen Lebewesen standen auf den Fensterbänken. In künstlichen Nestern hielt er Ameisenkolonien und beobachtete sie. Später studierte Bert Hölldobler Biologie in Würzburg und habilitierte 1969 an der Universität Frankfurt am Main. Hier hatte Martin Lindauer, Schüler des Nobelpreisträgers Karl von Frisch, ein herausragendes Zentrum der verhaltensbiologischen Forschung aufgebaut. „Lindauer war ein Meister darin, Talente zu erkennen und zu fördern”, sagt Hölldobler. Und so fanden sich in Frankfurt ein paar exzellente junge Wissenschaftler zusammen, die später eine führende Rolle in der verhaltensbiologischen Forschung übernehmen sollten. Für Hölldobler war es „eine aufregende Zeit, ein Aufbruch in der Verhaltensforschung”. Neues kam vor allem aus den Vereinigten Staaten. Dort hatten Forscher damit begonnen, die Verhaltensbiologie mit der Populationsgenetik zusammenzubringen – in Deutschland ein heißes Eisen: Nach den Erfahrungen der Nazidiktatur konnte hier niemand mehr unbefangen über Gene und Völker reden. Hölldobler ging für zwei Jahre als Gastprofessor nach Amerika, an die renommierte Harvard-Universität in Cambridge bei Boston. „Harvard war ein Schock im positiven Sinn”, erinnert sich Hölldobler. „Dort merkte ich, wie sehr die deutsche Verhaltensbiologie hinter dem Mond war.” Er ging noch einmal in Vorlesungen und besuchte Seminare des legendären Ernst Mayr. Zum ersten Mal hörte er „richtige Evolutionsbiologie” und lernte mathematische Ökologie kennen. Die Zukunft, so schloss Hölldobler, lag in der Verknüpfung der Verhaltensforschung, wie er sie in Deutschland gelernt hatte, mit der modernen Evolutionsbiologie. Zurück in Frankfurt, machte man den Heimkehrer zum Professor – gesicherte Position, Beamter auf Lebenszeit. Doch nach der intellektuell herausfordernden Atmosphäre in Harvard wirkte die Frankfurter Universität ernüchternd, zumal die aufmüpfigen Studenten der 68er-Bewegung die Universität fest im Griff hatten. „Forschen war kaum noch möglich”, sagt Hölldobler. Stundenlang habe man in Fakultätssitzungen nur Unsinn geredet: Über politische Aktionen, ob man streiken solle, Sit-ins machen – das war nicht der Job, den er gesucht hatte. Da traf es sich, dass ihm gleich zwei renommierte amerikanische Universitäten eine Professur anboten, darunter auch die Harvard-Universität, die er gerade verlassen hatte. Harvards Auswahlkommittee hatte die weltweite Gemeinschaft der Verhaltensbiologen durchmustert und den deutschen Forscher als den „viel versprechendsten jungen Wissenschaftler” identifiziert. 1972 kehrte Hölldobler nach Cambridge zurück, wo er dann fast zwei Jahrzehnte forschte und lehrte. Heute – nach zwölf Jahren deutschen Universitätsalltags – scheint sich der Professor manchmal nach Harvard zu sehnen. Mit leiser Wehmut erzählt er von der schöpferischen, lebendigen Arbeitsatmosphäre in dem neuenglischen Universitätsstädtchen, den unglaublich fordernden und intelligenten Studenten und dem lockeren Umgang unter den Kollegen. Er vermisst die ständigen Diskussionen unter Kollegen beim Mittagessen oder beim Spaziergang zum Harvard Square. „Die Luft schien immer frisch zu sein, nicht nur wegen des nahen Ozeans.” Die englische Sprache hatte ihm anfänglich Probleme bereitet. Er hatte gefürchtet, die Studenten könnten ihn nicht verstehen. Manchmal träumte er nachts, dass sich sein Mund beim Sprechen mit Stroh fülle. Doch die Angst legte sich rasch: Seine Vorlesungen erhielten von Harvards Studenten beste Noten. Als Beleg zieht Hölldobler ein dickes Buch aus dem Regal, der „ Course Evaluation Guide”, der die Bewertungen aller Vorlesungen eines Semesters enthält. „Die Studenten”, so heißt es darin, „ besuchen seine Vorlesung mit Vergnügen, selbst um 9 Uhr morgens.” Nach drei, vier Jahren war sein Englisch so gut, dass er die Arbeiten seiner Studenten stilistisch zu korrigieren begann. Heute schreibt Hölldobler alles in englischer Sprache, auch seine persönlichen Notizen. Seminare hält er auf Englisch. Seinen deutsch-bayerischen Akzent hat er allerdings immer noch. Hölldobler ist amerikanisiert. Aus Bertl wurde Bört. An die Stelle der Alpen sind die Berge Arizonas getreten, wo er ein Stück Land besitzt. Er schätzt Country- und Westernmusik und amerikanische Maler. Seine drei Söhne wurden als amerikanische Staatsbürger geboren. Allmählich entwickelte sich die Freundschaft zu dem sieben Jahre älteren Soziobiologen Ed Wilson. Sie ergänzen sich vorzüglich: Der Bayer ist der genaue, aufs Detail versessene Experimentator, sein amerikanischer Freund der Systematiker, der Mann der großen Linien und der Synthese. In seiner Lebensschilderung „Naturalist” aus dem Jahre 1994 zeichnet Wilson ein äußerst liebevolles Bild seines Kollegen. Hölldobler sei der „ehrlichste Wissenschaftler”, den er kenne, charakterstark, geradlinig und stets bereit, eine Hypothese zu verwerfen, wenn die Daten widersprächen. Die Freundschaft ging über die Wissenschaft hinaus – Wilson fand in Hölldobler den „ jüngeren Bruder, den er niemals hatte”. Unter der neuen amerikanischen Schale sei Hölldobler aber immer „der Bayer” geblieben – praktisch, zuverlässig, warmherzig und humorvoll, flexibel, alles in allem die Antithese des typischen Preußen. Krönendes Werk dieser langjährigen Forschungspartnerschaft ist der 1990 erschienene wissenschaftliche Bestseller „The Ants” – ein Mammutjob, wie sich Hölldobler erinnert, „den keiner von uns hätte allein bewältigen können”. Das großformatige Buch ist eine herkulische Zusammenfassung dessen, was die Forschung über Ameisen weiß. Es umfasst über 700 Seiten, wiegt mehr als drei Kilo und erfüllt damit die Bedingung, welche die Autoren an ein Opus Magnum stellen: Groß genug, um einen Mann zu erschlagen, wenn man es aus einem Fenster im dritten Stock wirft. Das Buch ist gedacht für Wissenschaftler, aber beileibe nicht trocken geraten. Bemerkenswert sind die zahlreichen Gemälde des amerikanischen Malers John Dawson, die in Zusammenarbeit mit Hölldobler entstanden sind und Einblicke in die befremdliche Welt der Ameisen geben. Einige der Originale hängen heute in Hölldoblers Büro. 1991 konnten die Autoren für ihr Buch den hoch angesehenen Pulitzerpreis entgegennehmen. Erstmals erhielt damit ein rein wissenschaftliches Werk diese Auszeichnung. „ Nobelpreisträger gibt es unter Wissenschaftlern viele”, schrieb ein Rezensent, „Pulitzerpreisträger nur ganz wenige”. Ameisen, so sieht es Hölldobler, „sind der Beweis dafür, dass sich Sozialverhalten rechnet”. Denn von den 30 Millionen Tierarten unseres Planeten leben nur wenige in sozialen Verbänden. Diese wenigen aber dominieren die Fauna: Ameisen und Termiten tragen ein Drittel zur tierischen Biomasse bei; bei den Insekten stellen die Sozietäten gar drei Viertel der Biomasse. Ihre hoch entwickelte soziale Lebensweise, so Hölldobler, habe die Ameisen zu einer weltweit dominierenden Gruppe gemacht. Die Myrmekologen kennen heute fast 10000 Ameisenarten. Wahrscheinlich gibt es doppelt so viele. Sie leben fast überall auf der Welt, angepasst an die verschiedensten Klimabedingungen und Nahrungsgrundlagen. Die Koloniegröße variiert zwischen wenigen Hundert und mehreren Millionen Individuen. Alle Gesellschaften sind arbeitsteilig organisiert und jedes Mitglied arbeitet für die Kolonie. Das Individuum ist zweitrangig. „Es scheint”, so schließen Hölldobler und Wilson hintersinnig in ihrem Buch, „dass Sozialismus unter ganz bestimmten Bedingungen doch funktioniert. Karl Marx hatte es nur mit der falschen Art zu tun.” Auf welchen biologischen Grundlagen beruht Sozialverhalten? Das zu untersuchen, ist Aufgabe der Soziobiologen. Faszinierend, aber auch kontrovers daran ist, dass es dabei nicht nur um Ameisen oder Schimpansen geht. Auch menschliches Verhalten gerät auf den soziobiologischen Prüfstand – ganz zwangsläufig –, wenn man akzeptiert, dass der Mensch Produkt der Evolution ist. Hölldobler wertet die soziobiologische Revolution – nach der Darwin’schen Revolution – als die zweite große Umwälzung in der Biologie, an der die Wissenschaft vom Menschen nicht vorbeikommt. „Moral und Ethik”, so sagt er, „haben zum Teil versagt, weil sie die soziobiologischen Wurzeln von menschlichem Sozialverhalten ignorieren. Um ein Verhalten wie Fremdenfeindlichkeit zu verstehen, reicht Moral nicht aus.” Man müsse auch schauen, wie sich dieses Verhalten im Laufe der Evolution herausgebildet hat. Dennoch – der soziobiologische Mensch interessiert Hölldobler nur am Rande. Der Grund: Soziobiologie, so sagt er, sei eine peinlich genaue Wissenschaft. Aber die könne man mit Menschen nicht betreiben, sondern nur mit Tieren. Peinlich genau geht es auch im Würzburger Biozentrum zu, seit Hölldobler 1990 dort den Lehrstuhl für Verhaltensphysiologie und Soziobiologie übernommen hat. Nur noch selten stellt der Professor Ameisenkolonien in Regenwäldern oder Wüsten nach. Das Sozialverhalten der Ameisen wird vor allem im Labor untersucht, unter streng kontrollierten Bedingungen. Die Forscher arbeiten fachübergreifend zusammen: Neurobiologen, Chemiker, Molekularbiologen, Mediziner, Soziogenetiker. Die Ausstattung sei hervorragend, meint Hölldobler. Hilfreich war dabei auch der renommierte Leibniz-Preis, den der Forscher 1990 erhielt – dotiert mit drei Millionen Mark, die er nach eigenem Ermessen in die Forschung stecken konnte. Der Entschluss, Harvard zu verlassen, fiel ihm nicht leicht. Es gab private Gründe: Die drei „Buben”, deren Deutsch besser werden sollte, oder die Nähe zu der großen Familie, die in Deutschland lebt. Als Soziobiologe weiß er schließlich um die Macht der genetischen Bande. Und es ging Hölldobler auch darum, die Evolutionsbiologie aus den Staaten nach Deutschland zu bringen. Da sieht er immensen Nachholbedarf. Für Hubert Markl, den Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft, ist es deshalb ein „großes Glück”, dass die deutsche Forschung den Mann wieder hat. Zusammen mit Hölldobler war Markl in Frankfurt bei Lindauer und beide sind seither gute Freunde. Hölldobler, so sagt er, sei ein glänzender Forscher und Lehrer, ein exzellenter Förderer des wissenschaftlichen Nachwuchses. Er habe Würzburg nicht nur zum Zentrum der Insekten-Soziobiologie in Deutschland gemacht. Auch im Weltmaßstab nehme das Biozentrum eine Spitzenstellung ein. Viel Lob für einen Mann, der nicht nur Komplimente zurückgibt. Hölldobler sieht das Biozentrum auch als Beleg dafür, dass die deutschen Universitäten um vieles besser sein könnten, als sie es heute sind – ein Thema, das den ansonsten ruhigen Mann richtig in Rage bringt. Er vermisst – nach seinen amerikanischen Erfahrungen – das „kompetitive Klima”, die Bewertung nach Leistung und internationalen Maßstäben. Am meisten aber ärgert ihn die „ pervertierte Bürokratie” – der ganze Ballast der Kultusbürokratie, der den Universitäten aufgepfropft werde. Er koste Zeit und Geld und lenke von der eigentlichen Aufgabe ab: exzellente Lehre und Forschung zu betreiben. Seine Forderung an die Politiker: Entlasst die Universitäten in die Autonomie! Lasst sie um die besten Professoren und Studenten konkurrieren! Entscheidet nur, wie viel Geld das Volk für Forschung und Lehre ausgeben will! Dass es dazu kommt, wird Hölldobler in Würzburg wohl nicht erleben. Drei Jahre bleibt er noch am Biozentrum – dann ist er 68. Pläne für die Zeit danach hat er schon: Er möchte wieder in die USA, wenn auch nur zeitweise. Immerhin hat er ja noch sein Stück Land in den Bergen Arizonas. Kompakt Bert Hölldobler, geboren 1936 im bayerischen Erling-Andechs. Erfolgreich auf beiden Seiten des Atlantik: 16 Jahre Professor an der Harvard University bei Boston, ab 1989 Aufbau des Biozentrums an der Universität Würzburg. Ist eiserner Verfechter der Einheit von Forschung und Lehre: „Lehren hat mir immer Spaß gemacht.” Lieblingsameise: die Pilze züchtende Blattschneiderameise. Findet, dass Moral und Ethik teils deshalb versagen, weil sie die soziobiologischen Wurzeln des menschlichen Verhaltens nicht beachten.

Bert Hölldobler

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