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Der Kampf im Kopf

Allgemein

Der Kampf im Kopf
Das menschliche Gehirn hat eine linke und eine rechte Hälfte, die weitgehend unabhängig voneinander funktionieren. Haben wir auch zwei unterschiedliche Persönlichkeiten?

Ijon Tichy ist der Held des Science-Fiction-Romans „Frieden auf Erden“ von Stanisław Lem, erschienen 1987. Oder ist er zwei Helden? Auf einer Mondmission wurden die beiden Hälften seines Gehirns mit einem Ultraschallskalpell getrennt. Seitdem sind sich Tichy links und Tichy rechts nicht immer einig. „Es gibt Momente, wo mein unglückseliger Leib in zwei feindliche Lager zerfällt“, berichtet Tichy. Wenn seine rechte Hand schreiben will, muss sie die linke fesseln. Wenn die Linke sich mit der Rechten verständigen will, muss sie ihr „Zeichen machen, wie sie zur Sprache der Taubstummen gehören“ – und bekommt obszöne Gesten als Antwort. Das klingt wie eine abseitige Idee aus der Fantasie eines Schriftstellers. Aber Lem war auch forschender Mediziner. Das Schicksal seines Helden Tichy hat einen realen Hintergrund.

Von den 1940ern bis in die 1970er-Jahre behandelte man schwere Epilepsie mit der sogenannten Callosotomie. Die Kappung der Nervenfasern des Corpus callosum, des Nervenbündels, das die Gehirnhälften verbindet, befreite die Patienten von Anfällen. Und zunächst bemerkten weder sie noch die Ärzte irgendwelche negativen Folgen. Doch nach und nach zeigten sich Symptome, die denen von Ijon Tichy glichen. Manche Patienten gerieten beim Einkaufen im Supermarkt in Streit mit sich selbst: Salat oder Schokolade? Die Patientin mit dem Pseudonym P.O.V., die am Ohio Medical College callosotomiert wurde, berichtete: „Ich öffne die Schranktür. Ich weiß, was ich anziehen will. Während ich mit meiner rechten Hand nach etwas greife, kommt meine linke dazwischen und greift etwas anderes. Wenn ich es einmal in der linken Hand halte, kann ich es nicht mehr hinlegen. Ich muss dann meine Tochter rufen.“

Was steckt hinter diesen seltsamen Verhaltensänderungen? Der britische Psychiater Iain McGilchrist hat darauf eine faszinierende Antwort: In uns leben zwei unterschiedliche Persönlichkeiten, hervorgebracht von den zwei Hälften unseres Gehirns.

In den 1950er-Jahren begannen Neurophysiologen, mit den „ Split-Brain-Patienten“ zu experimentieren – jenen Menschen, bei denen man das Nervenfaserbündel zwischen den Hirnhälften gekappt hatte. Die linke Gehirnhälfte ist überkreuz mit der rechten Körperseite und der rechten Hälfte des Gesichtsfelds verbunden, die rechte Gehirnhälfte mit der linken. Die Forscher konnten also gezielt eine Gehirnhälfte visuellen Reizen aussetzen oder sie motorisch arbeiten lassen. Dabei stellten sie deutliche Unterschiede fest: Die linke Hemisphäre ist die sprachbegabtere. Dafür ist die rechte versierter im Erkennen von Formen und Bildern.

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Vernunft und Gefühl – jeweils in einer Hälfte zu Hause?

Diese und verwandte Befunde erregten großes öffentliches Aufsehen. Die Zweiteilung unseres Denkorgans wurde zu einem Modethema der Hirnforschung – das wie viele Moden im Rückblick etwas peinlich wirkt. Es entstand ein popularisiertes Bild der Gehirnhälften, das sich später als komplett falsch erwies: Die linke Hälfte sei die Logikerin, sie erledige alles, was mit Sprache, Analyse und Kalkulation zu tun hat. Die rechte Hälfte sei die Künstlerin, zuständig für Ästhetik und Gefühle. Der Autokonzern Volvo pries in einer Anzeige ein „Auto für die rechte Hirnhälfte“ an. Andere verstiegen sich zu der esoterisch anmutenden Behauptung, in der Teilung des Gehirns spiegele sich die Dualität der ganzen Welt: Vernunft und Gefühl, männlich und weiblich, Yin und Yang. Es passte perfekt in die Ära der Hippies.

Heutig wissen Neurophysiologen, dass ihre damaligen Fachkollegen sich die Sache zu einfach vorgestellt haben. Es stimmt nicht, dass die linke Gehirnhälfte für das Rationale zuständig ist, die rechte für die Emotionen. Beide sind wesentlich an beidem beteiligt. Weder sitzt unser Sprachvermögen ganz in der linken Hälfte noch unser Vorstellungsvermögen ganz in der rechten. Wenn eine Gehirnhälfte ausfällt, etwa durch einen Schlaganfall oder eine schwere Schädelverletzung, dann bleibt die andere weder unvernünftig noch gefühllos zurück. Aber warum haben wir dann zwei Hälften?

Zwar ist das Gehirn nicht unser einziges Doppelorgan. Auch andere Organe sind zweifach angelegt, zum Beispiel Niere, Lunge und Schilddrüse. Doch beim Gehirn ist die Zweiteilung erstaunlich. Denn eigentlich gehört zum Bauprinzip unseres Denkorgans die Fähigkeit, möglichst alles mit allem zu verbinden. Die beiden Hirnhälften sind aber auffällig schlecht verbunden. Die Brücke zwischen ihnen ist im Zuge der menschlichen Entwicklung sogar immer dünner geworden: Das Corpus callosum ist – relativ zum Hirnvolumen – im Lauf der Evolutionsgeschichte nicht gewachsen, sondern geschrumpft. Und noch seltsamer: Neurophysiologen wissen seit Langem, dass die Hirnhälften sich über das Corpus callosum nicht gegenseitig anregen, sondern hemmen. Ist die eine Hälfte aktiv, bringt sie die andere zum Schweigen (siehe „Die Teilung des Gehirns ist biologisch notwendig“ ab S. 18). Es scheint, als hätten sich die beiden Hemisphären auseinandergelebt, etwa wie ein altes Ehepaar, das sich nicht mehr allzu viel zu sagen hat.

Aber man sollte alte Ehepaare nicht unterschätzen. Sie harmonieren oft auch ohne viele Worte, weil sie sich gut ergänzen. So ähnlich sieht Iain McGilchrist auch das Verhältnis der beiden Hälften des Gehirns: ein Bund fürs Leben, nicht ohne Spannungen, aber insgesamt gedeihlich für die Beteiligten. „Man kann jeder Hirnhälfte eigene Ansichten, Absichten, Ziele, Werte und Neigungen zuschreiben“, sagt er. Kein Wunder, dass man da auch mal mit sich selbst uneins ist. Bei gesunden Menschen spielt sich dieser Konflikt eher innen ab. So wie in Goethes „Faust“, der auf seinem Osterspaziergang klagt: „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, die eine will sich von der andern trennen: die eine hält in derber Liebeslust sich an die Welt mit klammernden Organen; die andre hebt gewaltsam sich vom Dust zu den Gefilden hoher Ahnen.“

Wenn den Hemisphären durch Callosotomie die Möglichkeit zur Verständigung genommen wird, tritt der Konflikt zutage – dann ringt eine Hand mit der anderen. Am Maudsley Hospital in London, wo McGilchrist lange praktizierte, hat er Menschen kennengelernt, bei denen ein Tumor oder ein Schlaganfall die rechte Hirnhemisphäre lahmgelegt hatte – und die daraufhin ihre linke Körperhälfte nicht mehr wahrnahmen, nur die rechte Seite ihres Gesichts schminkten und beim Kämmen oder Bekleiden die linke Seite komplett vernachlässigten.

Seither treibt Iain McGilchrist die Frage nach der Doppelnatur unseres Denkorgans um. Warum besteht es überhaupt aus zwei Hälften? McGilchrists Lösung sieht so aus, unser Gehirn als ein Team zweier individueller Charaktere zu verstehen, die im besten Fall zusammenarbeiten, mitunter aber auch unterschiedliche Absichten verfolgen. Für gewöhnlich merkt man davon nichts. Die verschiedenen Persönlichkeiten zeigen sich erst, wenn man eine Hirnhälfte experimentell isoliert.

Das Gehirn verschleiert das innere Chaos

Das ist nicht ganz einfach. Selbst die Split-Brain-Patienten erleben sich im Alltag nicht als Doppelbewusstsein. Das Gehirn ist sehr geschickt darin, das Durcheinander, das es beherbergt, zu einem einheitlichen Bewusstsein zusammenzufügen. Nur in speziellen Situationen tritt die Trennung offen zutage – zum Beispiel bei der Patientin P.O.V. vor dem Kleiderschrank und in Experimenten, bei denen Forscher die Wirkungsweise der einzelnen Hirnhälften separat untersuchen, indem sie beispielsweise Gegenstände oder Wörter nur einer Gehirnhälfte zeigen (siehe Grafik „Geteiltes Gehirn“ unten auf dieser Seite).

Am Beispiel eines Vogels, der ein Nest baut, erklärt McGilchrist, warum die Arbeitsteilung zwischen den Hemisphären sinnvoll ist. Der Vogel steht vor zwei widersprüchlichen Herausforderungen: Einerseits muss er wie ein Ingenieur konzentriert und methodisch Zweige ineinander flechten. Gleichzeitig muss er wie ein Kundschafter offen bleiben für unerwartete Eindrücke – etwa einen plötzlich auftauchenden Feind. Um beide Herausforderungen meistern zu können, habe die Natur Vögel und andere Tiere mit zwei Hirnhemisphären versehen, meint McGilchrist. „Sie benutzen ihre linke Hirnhälfte für eng fokussierte Aufmerksamkeit auf bereits bekannte Dinge“, sagt er, „ während sie ihre rechte Hirnhälfte wachsam halten für alles, was da kommen mag.“

Ähnlich bei Menschen: „Für uns gibt es zwei gegensätzliche Wirklichkeiten, zwei unterschiedliche Weisen der Erfahrung“, sagt McGilchrist. „Die linke Hemisphäre neigt dazu, sich mit isolierten Informationen zu beschäftigen, die rechte Hemisphäre mit dem großen Ganzen, der sogenannten Gestalt.“ Das sei keine scharfe Arbeitsteilung, sondern eher ein Unterschied im Charakter. Auch die rechte Hemisphäre kann sich konzentrieren, auch die linke kann ihren Fokus weiten – nur eben nicht so gut.

Besonders deutlich lässt sich dieser Unterschied an pathologischen Fällen studieren, bei denen die eine Hemisphäre ausgefallen oder das Zusammenspiel beider Hirnhälften gestört ist. Bei einem Test ließ McGilchrist seine Patienten am Maudsley Hospital einen Baum zeichnen. Gesunde zeichnen den Baum in seinem ganzen Formenreichtum, von der groben Silhouette bis hin zum kleinsten Ast. Patienten hingegen, bei denen nach einem Schlaganfall nur noch die linke Hirnhälfte richtig funktioniert, zeichnen meist eine schematisch verzweigte Struktur, die einem Baum nur entfernt ähnelt. Schlaganfall-Patienten mit gesunder rechter Hirnhälfte wiederum konnten zwar den Gesamteindruck eines Baums zu Papier bringen, schlampten aber bei den Details.

Die Psychiatrie war nur eine von McGilchrists Stationen auf dem langen Weg, die menschliche Natur zu enträtseln. Er begann Ende der 1970er-Jahre als Literaturwissenschaftler am angesehenen All Souls College der University of Oxford. Damals interessierte McGilchrist sich dafür, wie Menschen das Konkrete, Körperliche, Unverwechselbare in Kunstwerken wahrnehmen. In einem Vortrag des Schizophrenie-Experten John Cutting hörte er erstmals von den Fähigkeiten der rechten Hirnhälfte: „Cutting sagte, die rechte Hirnhälfte sei viel besser darin, all die Dinge zu verstehen, die ich im analytischen Denken vermisst hatte: das Implizite, Metaphern, Körpersprache, Humor, Tonfall, das Einzigartige, das Partikulare. “ Mit 28 Jahren beschloss der Geisteswissenschaftler McGilchrist, ein Medizinstudium zu beginnen. Für zwei Jahrzehnte vertiefte er sich in das Rätsel der Hirnhälften, dann, im Jahr 2009, legte er sein Buch „The Master and His Emissary“ vor (Der Herr und sein Gesandter). Der Titel spielt auf eine alte Geschichte von einem Fürsten an, der seinem Gesandten die Verwaltung seines Reichs überlässt. Der Gesandte schaltet und waltet – und vergisst schließlich, dass er nur im Auftrag seines Herrn regiert. Er hält sich selbst für den Herrn. McGilchrist sieht die linke Hemisphäre als ursprünglichen Gesandten der rechten. Der rechtmäßige Herr in unserem Oberstübchen, die rechte Hemisphäre, habe die Herrschaft mittlerweile an ihren Gesandten verloren.

McGilchrist glaubt sogar, dass der Kampf zwischen den Gehirnhälften den Gang der Geschichte mitbestimmt hat. „In der klassischen Antike und in der europäischen Renaissance und Aufklärung waren die Hemisphären im Gleichgewicht“, sagt er. Nach diesen Blütezeiten unserer Zivilisation jedoch habe jedes Mal die linke Gehirnhälfte die Oberhand gewonnen. Die Gesellschaft wurde immer starrer und machtorientierter und verlor an geistiger Regheit. Dafür hat McGilchrist eine Unmenge von Hinweisen aus der Kultur- und Sozialgeschichte zusammengetragen – auch aus unvermuteten Quellen wie der Entwicklung der Porträtmalerei: „In den großen humanistischen Epochen kam plötzlich Leben in die Gemälde“, sagt er. „Die Gesichter starren nicht mehr ins Leere, sondern blicken direkt auf den Betrachter oder auf dessen linke Seite, also die Seite der rechten Hemisphäre.“ Sowohl in der antiken Blüte als auch in der europäischen Kunst des 15. und 16. Jahrhunderts haben Kunsthistoriker diese Belebung verzeichnet – und jedes Mal erstarren die Gesichter nach einer Weile wieder.

Beim ersten Mal habe die linke Gehirnhälfte die Menschheit in die Dekadenz und schließlich ins Dunkel des Mittelalters geführt. Beim zweiten Mal in die Finanzkrise. „Früher ging es in der Finanzwelt darum, wem man vertrauen kann, heute geht es nur noch darum, wie man andere austrickst“, sagt McGilchrist. „Der Kollaps der Märkte war ein perfektes Beispiel für das blinde Befolgen von Algorithmen, die im Abstrakten tauglich schienen, die aber völlig entkoppelt waren von der wirklichen Welt.“

Beifall und Buh-Rufe

McGilchrists Theorie blieb nicht unangefochten, speziell in ihren kulturhistorischen Verzweigungen. Viel zu spekulativ sei sie, um noch als harte Wissenschaft zu gelten, kritisieren manche. Und die Erkenntnisse der Hirnforschung seien „viel zu grob, um die psychologischen und kulturellen Folgerungen zu stützen, die McGilchrist zieht“, befand der englische Philosoph A. C. Grayling. Onur Güntürkün, der sich an der Universität Bochum mit Hemisphärenforschung beschäftigt, hält es zwar für „ legitim und möglich“, die Unterschiede zwischen den Gehirnhälften als Persönlichkeitsunterschiede zu betrachten. „Aber wenn Sie sagen, das geht mir zu weit, ist das auch legitim“, meint Güntürkün. Iain McGilchrist bestreitet nicht, dass seine Theorie von den zwei Persönlichkeiten eine Metapher ist. Und Metaphern haben nun mal eine begrenzte Tragweite. „Faszinierend“ findet indes der Neuropsychologe Peter Brugger McGilchrists Sicht. „Es gibt gute Daten dafür, dass die Hemisphären mit unterschiedlichen Persönlichkeitseigenschaften korreliert sind“, sagt er. In eigenen Versuchen hat er festgestellt, dass Menschen, deren Hemisphärenbalance Schlagseite nach rechts hat, eine besondere Neigung zu magischem Denken haben.

Auch der Hirnforscher Georg Northoff stimmt McGilchrist in Teilen zu: „Beide Hemisphären haben die Fähigkeit für Bewusstsein, und es gibt viele empirische Belege dafür, dass ihre Beiträge unterschiedlich sind. “ Aber wenn jeder Mensch aus zwei selbstständig bewusstseinsbegabten Einheiten besteht, bleibt eine Frage, die auch Descartes gestellt hätte: Warum bemerken wir es im Alltag nicht? Das ist ein Rätsel, an dem Neurowissenschaftler noch eine Weile knabbern werden. •

Wissenschaftsjournalist Tobias Hürter bemüht sich um mehr Balance zwischen seinen beiden Gehirnhälften, seit er mit Iain McGilchrist über dessen Theorie gesprochen hat.

von Tobias Hürter

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