Zeitlebens bewahrte der von vielen hoch geachtete amerikanische Stotterforscher Wendell Johnson Stillschweigen über eines seiner Experimente. Dabei war es aus seiner Sicht erfolgreich verlaufen. Erst vor wenigen Jahren wurde die 1939 gestartete Untersuchung bekannt – als die „Monster-Studie“. Johnson, der selbst schwer stotterte, wollte mit ihr seine Theorie beweisen: Danach entsteht Stottern, wenn Eltern und Lehrer auf harmlose Sprachfehler eines Kindes reagieren und es dadurch verunsichern.
Johnson schickte seine Studentin Mary Tudor Jabobs in ein Waisenhaus in Davenport am Mississippi. Dort versuchte sie, aus elf Kindern künstlich Stotterer zu machen – unter dem Deckmantel angeblicher Sprachtherapie.
Eines ihrer Opfer war die 12-jährige Mary Korlaske. Sobald das Mädchen in der ersten Stunde ein Wort wiederholte, erklärte ihr die vorgebliche Therapeutin, sie sei auf dem Weg zur Stotterin. Derartige Ratschläge sollten das Problem noch verstärken. Das Mädchen musste seine Sprache ständig kontrollieren und widersinnige Gegenmaßnahmen ergreifen – etwa vor schwierigen Worten tief Luft holen. Bald versprach sich das Kind immer öfter. Den Leidensgenossen ging es nicht besser. Vier Monate später kämpften fünf der sechs Kinder, die zu Beginn normal geplaudert hatten, mit der Sprache. Ob sie regelrechte Stotterer geworden waren und blieben, ist bis heute umstritten. Auch bei den drei der fünf Kinder, die schon vorher gestottert hatten, war es mit dem Sprechen noch weiter bergab gegangen.
Mary Korlaske lernte nie wieder richtig sprechen. Sechs Jahrzehnte später schrieb sie der Therapeutin einen Brief: „An Mary Tudor Jabobs, das Monster: Sie haben mein Leben zerstört. Ich hätte Wissenschaftlerin werden können, Archäologin oder sogar Präsidentin. Stattdessen wurde ich eine bemitleidenswerte Stotterin.“ Das Grusel-Experiment des Prof. Johnson ist ein trauriger Extremfall. Doch Stotterer wurden häufig Opfer nutzloser oder gar schädlicher Kuren. Harmlos war der Rat des britischen Philosophen Sir Francis Bacon, der das Problem 1627 auf „die Kälte der Zunge“ zurückführte und zum Aufwärmen mäßigen Weinkonsum empfahl. Zwei Jahrhunderte später entfernte der preußische Chirurg Johann Friedrich Dieffenbach Stotterern Teile der Zungenwurzel, um angebliche Verkrampfungen zu lösen. Im gleichen Jahr, 1841, berichtete das britische Journal Lancet von einem weiteren angeblich erfolgreichen Versuch, Stottern zu unterbinden. Bei dieser Prozedur wurde der Körper von der Wirbelsäule bis zum Rachen unter Strom gesetzt.
Jochen Paulus