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Die Teilung des Gehirns ist biologisch notwendig

Allgemein

Die Teilung des Gehirns ist biologisch notwendig
Der Biopsychologe Onur Güntürkün erklärt, wie unsere Hirnhälften miteinander kommunizieren.

bild der wissenschaft: Das Gehirn ist das energiehungrigste Organ im Körper – und dann leistet sich der Körper auch noch zwei fast gleiche Hälften davon. Warum dieser Luxus, Professor Güntürkün?

Güntürkün: Wir brauchen beide Hälften, weil unsere Welt ja aus zwei Welten besteht – eine zu unserer Linken und eine zu unserer Rechten. Alle unsere Sinnesorgane sind paarig. Im Prinzip könnte das Gehirn natürlich auch die gesamte Rezeptoroberfläche des Körpers in einem einzigen Ball ohne Teilung in Hemisphären abdecken. Aber dann wäre es wahrscheinlich nicht kleiner. Die Doppelung der Hemisphären ist wohl gar kein prinzipielles Phänomen, sondern spiegelt die Tatsache, dass unsere Rezeptoroberfläche symmetrisch zu unserer Linken und zu unserer Rechten ausgebreitet ist.

Aber die Doppelung schafft auch ein Problem: Die Hemisphären müssen miteinander kommunizieren.

So ist es. Diese Kommunikation läuft über eine sehr kleine Brücke, das Corpus callosum. Hier ist die Zahl der Nervenfasern erheblich niedriger als die Zahl der Fasern, die jeweils innerhalb einer Hirnhälfte verlaufen. Die Kommunikation zwischen den Hirnhälften ist also ein Nadelöhr im Vergleich zur Kommunikation innerhalb einer Hirnhälfte.

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Was spräche gegen einen breiteren Kommunikationskanal?

Das ist eine Frage der Optimierung. Wenn wir die Architekten des Gehirns wären, dann würde einer vielleicht sagen: Lasst uns so viele Axone wie möglich hineinpacken, damit wir die Information möglichst detailliert übermitteln. Und ein anderer würde vielleicht sagen: Es kommt auf die Geschwindigkeit an. Die Information soll so schnell wie möglich zwischen links und rechts wechseln. Der erste Architekt würde sagen: Gute Idee! Dann würden beide ihre Ideen kombinieren und eine sehr große Zahl von Axonen einbauen, alle dick und von einer Isolierschicht aus Myelin umhüllt. Das Gehirn hat nur eine einzige Möglichkeit, die Informationsübertragung zu beschleunigen, nämlich Axone großkalibrig und myelinisiert zu machen. In dem Moment aber, in dem ich sehr viele dicke Axone habe, brauche ich mehr Platz, als ich in meinem Schädel habe. Das heißt, beide Architekten fangen an, das Ganze zu optimieren – der eine mit seinem Auflösungswahn, der andere mit seinem Geschwindigkeitswahn. Was dabei in unserem Corpus callosum herausgekommen ist, ist ein Kompromiss: zum größten Teil dünne, unmyelinisierte Fasern und nur einige dicke, myelinisierte Fasern dazwischen. Eine dicke, hochgradig myelinisierte Faser verdrängt 40 kleine, unmyeliniserte Fasern. Sie sehen, wie groß der Verlust ist, den die Geschwindigkeit mit sich bringt. Man darf also die schnell übertragenden Fasern nur an ganz wenigen, strategisch wichtigen Punkten einbauen.

Wenn man also sagt, dass jemand eine „lange Leitung“ hat, dann meint man eigentlich, dass er eine unmyelinisierte Leitung hat.

Exakt. Zwischen den beiden Hemisphären ist die Leitung primär „ lang“. In einem kleinen Netzwerk innerhalb einer Hemisphäre hingegen gelingt die Identifikation eines Sinnesreizes sehr schnell. Es gibt Arbeiten von britischen Kollegen, die zeigen, dass die Gehirne von Affen, die auf die Unterscheidung von Gesichtern trainiert wurden, schon etwa fünf bis sechs Millisekunden, nachdem das Signal eines Gesichts in einem Netzwerk aus wenigen Nervenzellen angekom- men war, mit 95 Prozent Wahrscheinlichkeit das Gesicht identifizierten. Die Wiedererkennung eines bekannten Musters innerhalb eines kleinen Netzwerks gelingt also schon nach fünf bis sechs Millisekunden. Die Kommunikation zwischen einander entsprechenden Netzwerken in der rechten und der linken Hemisphäre dauert aber etwa 30 bis 40 Millisekunden. Jetzt stellen Sie sich vor, Sie bauen ein Gehirn, bei dem sich die Hemisphären immer absprechen müssen …

… dann würden die Gehirnhälften die meiste Zeit aufeinander warten.

Genau. Ein solches System ist nicht konkurrenzfähig. Es ist viel zu langsam.

Das erklärt die Teilung des Gehirns. Aber wie kam es zur Asymmetrie zwischen den Gehirnhälften?

Die beiden Hälften sind gezwungen, sich zu speziali- sieren, also quasi autark Entscheidungen zu treffen. Aber, so kann man spekulieren, die beiden Hälften arbeiten insgesamt effizienter, wenn sie sich auf leicht unterschiedliche Komponenten spezialisieren. Zum Beispiel betrachtet die eine Hemisphäre bei einem Gesicht die einzelnen Teile, wie Augenfarbe oder Form der Nase, die andere schaut sich dagegen die Konfigu-ration an, also zum Beispiel die Position der Nase relativ zu den Augenbrauen.

Zuerst kam also die Autarkie, dann die Spezialisierung?

Die Autarkie ist notwendig, weil die Prozesse sonst extrem langsam ablaufen würden. Es gibt keine andere Möglichkeit, als dass die beiden Hemisphären weitgehend unabhängig voneinander ihren Job machen. Eine ganze Reihe von Indizien deutet darauf hin, dass die Prozesse in den Hirnhälften ziemlich komplementär sind, also der gleiche Sinnesreiz ganz Unterschiedliches in Gang setzt.

Hat die Asymmetrie im Laufe der Entwicklung des Menschen zugenommen?

Es sieht tatsächlich so aus, als habe die Asymmetrie in den letzten Jahrmillionen innerhalb der Gattung Homo zugenommen. Aber amerikanische Kollegen haben auch bei Schimpansen Asymmetrien in den Regionen gefunden, die den menschlichen Sprachregionen entsprechen. Obwohl diese Tiere nicht sprechen, sind bei ihnen die anatomischen Asymmetrien sogar stärker ausgeprägt als bei uns Menschen. Das ist etwas, das wir noch nicht gut verstehen.

Das alles klingt so, als seien die Hirnhälften zwei eigenständige Organe.

Bei der Sprachproduktion kann man das tatsächlich so sehen. Bei anderen Funktionen ist die Asymmetrie nicht so extrem.

Allgemein gefragt: Wie würden Sie den Unterschied zwischen den Hemisphären charakterisieren?

Der Unterschied liegt vor allem in der Verarbeitung von Reizen. Die rechte Hemisphäre verarbeitet eher konfigurale Dinge als Objektdetails: Sie schaut eher großräumig auf die Zusammenhänge.

Das große Ganze ist also Sache der rechten Hirnhälfte?

Exakt. Die linke Hemisphäre dagegen konzentriert sich auf Details und vernachlässigt dadurch zwangsläufig die Zusammenhänge. Sie könnte zwar versuchen, diese zu analysieren, doch da sie nicht besonders gut darin ist, überlässt sie das lieber der rechten Hirnhälfte.

Es gibt die populärpsychologische Unterscheidung zwischen Linkshemisphären- Typen und Rechtshemisphären-Typen.

Das ist zumindest fragwürdig, ganz ähnlich wie die Geschlechterklischees. Sie kennen vielleicht das Buch „Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken“ von Allan und Barbara Pease. Wenn ich gefragt werde „Stimmt das denn?“, muss ich sagen, ja, ein bisschen davon stimmt schon. Es ist nicht vollkommen falsch. Aber der Lautstärke-Knopf ist zu stark aufgedreht.

Kann man etwas abgeschwächt sagen, dass manche Menschen eher von der linken Hirnhälfte dominiert sind und andere von der rechten? Es gibt ja Menschen, die in kleinen Schritten denken und andere, die eher große Ideen entwerfen.

Wenn wir in der Lage wären, das wirklich quantitativ zu fassen, dann würden wir bei einer sehr großen An-zahl von Menschen womöglich etwas in dieser Art finden. Doch die Fähigkeiten, die wir als Persönlich- keitsmerkmale festmachen, setzen sich meist aus vielen Unterfähigkeiten zusammen. Musikalisches Talent oder Kreativität zum Beispiel ist ja nicht etwas, das eine Hemisphäre für sich gepachtet hat.

Es gibt die These, dass die Hirnhälften eher um die Vorherrschaft über unser Handeln konkurrieren, als dass sie kooperieren. Was halten Sie davon?

Sehr viel! Die Fasern, die die beiden Hirnhälften verbinden, haben letztlich einen hemmenden Effekt. Das heißt nicht, dass die Fasern einen hemmenden Transmitter transportieren – aber sie aktivieren hemmende Neurone. Man kann daher sagen, dass die Hemisphären primär in Konkurrenz zueinander stehen.

Ein produktiver Wettkampf sozusagen?

Richtig. Und wenn dieser produktive Wettkampf nicht mehr stattfinden kann, weil das Corpus callosum durchtrennt wurde, dann kann das Ganze nicht mehr funktionieren. •

Das Gespräch führte Tobias Hürter

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