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Flaschenzüge

Allgemein

Flaschenzüge
Was treibt den Kletteraffen in die Höhe? An dem nostalgischen Spielzeug hätte Aristoteles seine Freude gehabt, dem die Erfindung dieser Arbeitsmaschine häufig zugeschrieben wird.

Die Dame im Antiquitätenladen nimmt den Affen im roten Frack aus dem Regal und hält ihn an den beiden Enden seiner Schnur senkrecht zwischen ihren Händen. Während sie die Schnur streckt, klettert der Affe mit Armen und Beinen behende nach oben von der einen zur anderen Hand. Läßt sie die Schnur wieder locker, kehrt sich der Vorgang spiegelbildlich um – wie ein rückwärtslaufender Film.

Die Innereien des Kletteraffen: Die genaue Wiederholung der Bewegung vorwärts und rückwärts läßt vermuten, daß das Klettern des Blechspielzeugs durch ein mechanisches Getriebe in seinem Innern gesteuert wird, zumal die Schnur, wie man sehen kann, durch den Körper hindurchführt. Bei näherer Betrachtung bemerkt man auch, daß der Affe die Schnur an seinen Armen und Beinen gar nicht ergreifen kann, weil sie an den Pfoten – und am Schwanz – locker durch Ösen gleitet. Außerdem ist nicht zu übersehen, daß die Schnur sich beim Aufwärtsklettern des Affen zwischen den Händen der Vorführerin etwa auf das Doppelte verlängert. Diese Beobachtung weckt den Verdacht, daß es sich bei der Schnur, die oben durch ein Loch in dem Blechkörper verschwindet, und der Schnur, die unten durch ein Loch aus ihm herauskommt, gar nicht um dieselbe Schnur handelt.

Bei einem wertvollen, “antiken”, Blechspielzeug verbietet es sich von selbst, die Laschen aufzubiegen, sie dabei vielleicht abzubrechen und den Lack zu beschädigen, um einen flüchtigen Blick in sein Inneres zu werfen. Deshalb verschaffe ich mir auf theoretischem Wege Einblick, indem ich mir einen Auszug aus dem Deutschen Reichspatent besorge, auf dem das Spielzeug beruht.

Es handelt sich um das DRP No 69040, das vom Kaiserlichen Patentamt am 9. November 1892 an einen William Pitt Shattuck in Minneapolis erteilt wurde.

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Der Affe wurde ein halbes Jahrhundert lang, von 1895 bis 1945, in seiner ursprünglichen Bemalung produziert, von 1948 bis 1970 bekam er im VEB Werk Brandenburg in der damaligen DDR einen roten Frack verpaßt. Übrigens gibt es den rot befrackten Affen seit kurzem wieder in einer vorzüglichen Replik zu erschwinglichem Preis zu kaufen.

Der Dosenaufzug: In der Patentschrift steht: “Das Princip, auf welchem die Construction des neuen Spielzeuges beruht, besteht darin, daß beim Anziehen der auf Scheiben oder Rollen im Innern der Figur aufgewickelten Schnüre die eine Schnur sich schneller abwickelt, als die andere sich aufwickelt. Da die Scheiben oder Rollen auf Achsen laufen, die mit der Figur fest verbunden sind, wird durch die ungleichmäßige Beschleunigung der Schnur eine Bewegung der Figur die Schnur entlang erzielt.

Die Erfindung betrifft weiterhin die specielle Anordnung der Gliedmaßen einer solchen Figur in der Weise, daß dieselben bei der Kletterbewegung der Figur Bewegungen ausführen, die denen eines lebenden Geschöpfes nachgebildet sind.”

Um die Erfindung möglichst umfassend zu schützen, charakterisiert die Patentschrift die Eigenschaften und den Aufbau des Erfindungsgegenstands so allgemein und vage, daß man ihn nach dieser Beschreibung nicht nachbauen, höchstens nacherfinden könnte.

Der erste Absatz des Textes bestätigt die Vermutung, daß der Affe sich an zwei Schnüren bewegt, deren sichtbarer Teil beim Hochklettern des Affen deswegen länger wird, weil die untere Schnur sich schneller abwickelt, als die obere sich aufwickelt. Die mitgelieferten Schnittzeichnungen eines stilisierten Affen geben konstruktive Hinweise, wie sich der Antrieb des Spielzeugs, zum Beispiel durch eine Zahnradübersetzung, verwirklichen läßt.

Zum Nachbau entschied ich mich für die denkbar einfachste Konstruktion: Aus zwei kurzen Abschnitten runder Holzleisten von sehr verschiedenem Durchmesser und drei größeren Pappscheiben zur Führung der Schnüre baute ich zwei fest miteinander verbundene Schnurlaufrollen zusammen. Diese montierte ich mit zwei langen Nägeln als Welle von beiden Seiten in eine leere Kaffeedose, wickelte zwei Windungen Schnur auf die kleinere und so viel Schnur, wie sich abwickeln sollte, auf die größere Spule – und fertig war mein Dosenaufzug. Unbehindert durch die “lebensecht bewegten Gliedmaßen” des Spielzeugs kann die Dose an der Schnur sogar schneller hochklettern als mein Kletteraffe (und mein Klettermatrose “Jonny”, der nach demselben Patent funktioniert).

Bewegte Arme und Beine hinzuzufügen, ist nicht ganz einfach, aber für Studenten des Maschinenbaus nur eine Übungsaufgabe zur Getriebelehre. Im Patentspielzeug werden die zweigliedrigen Arme und Beine am einen Ende durch Ösen an der Schnur, am anderen durch die ungleich langen Schenkel eines Winkelhebels gesteuert, dessen Scheitel auf einem Kreis um die zentrale Welle des Schnuraufzugs läuft.

Kräftespiel: Wer die Dose hinreichend langsam bewegt, muß an der unteren Schnur mit der Kraft ziehen, die sie in der Ruhe im Gleichgewicht hält, vermehrt um die Reibungskräfte an der Schnur, wo sie sich am Deckel und am Boden der Dose reibt. Der Dosenaufzug ist so gebaut, daß sein Schwerpunkt in halber Höhe h in der Mitte der Dose liegt.

Die Zugkraft F in der unteren Schnur steht im Gleichgewicht mit dem Gesamtgewicht G und der Haltekraft H der oberen Schnur: F = H – G. Im Innern der Dose stehen an der Schnurlaufrolle mit den Radien r und R die Drehmomente der Schnurkräfte H’ beziehungsweise F’ im Gleichgewicht: H’r = F’R.

Die Kräfte innen und außen in den Schnüren unterscheiden sich durch die Reibungskräfte dazwischen, die bei trokkenen Oberflächen wegen der wachsenden Anpreßkraft mit den Umlenkungswinkeln a beziehungsweise b exponentiell zunehmen.

Zum Aufstieg wird die Schnur nach unten durchgezogen, und es gelten die Gleichungen H’ = Hexp(μα) und F = F’exp(μβ), worin m ein von der Oberflächenbeschaffenheit abhängiger Gleitreibungskoeffizient ist. Nach Elimination der übrigen Unbekannten folgt die Zugkraft F = G/(Q-1) mit der Abkürzung Q = (R/r)exp[-μ(α+β)] für das Produkt aus dem Radienverhältnis und dem Einflußfaktor der Gleitreibung. Die Größe der Winkel ist durch die Geometrie des Dosenaufzugs festgelegt: sin α = r/h und sin b = R/h.

Da der Zahlenwert der Exponentialfunktion kleiner als 1 ist, verkleinert die Reibung an der Schnur das wirksame Radienverhältnis der Schnurlaufrollen. Soll der Aufzug möglichst leicht laufen und auf keinen Fall blockieren, muß man den Zahlenwert von m möglichst klein machen, zum Beispiel durch abgerundete Ösen an den Schnurdurchlässen von Deckel und Boden der Dose.

Flaschenzüge: Gemeint sind nicht die Aufmärsche unfähiger Personen, sondern die Arbeitsmaschinen, die von alters her zum Heben von Lasten eingesetzt werden, wo die schwache Muskelkraft des Menschen nicht ausreicht.

Nach Franz Maria Feldhaus (“Die Technik”, Wiesbaden, 1970) waren sie schon zur Zeit des Aristoteles, um 330 v. Chr., “etwas ganz Gewöhnliches” und sind nicht, wie oft behauptet, erst 80 Jahre später durch Archimedes erfunden worden. Seit leistungsfähige kleine Motoren das Nachdenken über den besten Kräfteeinsatz überflüssig machen, finden Flaschenzüge nur noch geringe Beachtung.

Unser Dosenaufzug ist eine ungewöhnliche Spielart des Flaschenzugs. Wer möchte schon mit der Last jedesmal den ganzen Aufzug heben? Auch der bekannte “Faktor”-Flaschenzug, dessen eine “Flasche” fest ist, während sich die andere mit der Last bewegt, kann nicht die optimale Lösung für ein Hebewerk sein. Im übrigen haben seine Rollen nur eine Hilfsfunktion: das Seil möglichst reibungsfrei umzulenken. Ihre unterschiedliche Größe hat keinen anderen Sinn als zu verhindern, daß sich Seilwindungen im Flaschenzug berühren und aneinander reiben. Bei reibungsfreier Umlenkung durch kreisrunde Räder wird daher die Zugkraft des Arbeiters am Flaschenzug mit der Zahl der Umlenkrollen als Faktor verstärkt.

Wie Feldhaus berichtet, sollen im Mittelalter beim Takeln von Segelschiffen sogar Flaschenzüge ohne Rollen in Gebrauch gewesen sein. Damit ein solcher Flaschenzug seinen Zweck erfüllte, das Heben einer Last zu erleichtern, mußte bei den zahlreichen Umlenkungen des Seils in seinem Innern die Gleitreibung außerordentlich gering sein. Sogar die kleinen Flaschenzug-Korkenzieher in meiner Sammlung haben winzige Rollen in ihren Flaschen.

Bedeutend raffinierter und zugleich dem Dosenaufzug nah verwandt ist der Differentialflaschenzug. Sein Ursprung wird in China vermutet – “Chinese windlass” nennt ihn Joseph Needham, der Chronist der chinesischen Kulturgeschichte. In den Schulbüchern unserer Urgroßeltern wurde er noch als physikalische Arbeitsmaschine behandelt. Durch die Wahl des Radienverhältnisses R/r der beiden fest miteinander verbundenen Schnurlaufrollen – im chinesischen Vorbild sind es zwei Trommeln von etwas verschiedenem Durchmesser – läßt sich das Verhältnis der Zugkraft F zur Last P beliebig einstellen: F = (1-r/R)P/2cosβ.

Wie beim Autofahren sind beim Betrieb von Aufzügen aus Sicherheitsgründen die Bremsen wichtiger als der Antrieb. Das Heben von Lasten ist ein Spiel gegen die Schwerkraft. Wie verhindert man, daß eine bereits gehobene Last wieder abstürzt? Im einfachsten Fall genügt ein Sperrklinkenmechanismus. Es gibt verschiedene patentierte Lösungen – fragen Sie den TÜV oder Ihren Sicherheitsingenieur.

Eine Frage zum Schluß: Glauben Sie daß man sich mit einem solchen Aufzug selber hochziehen kann, wenn man sich die Lastseite zum Sitzen einrichtet?

Wolfgang Bürger

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