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Giftige Gehilfen

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Giftige Gehilfen
Mit Grubenottern gegen Schlaganfall. 3000 exotische Mitarbeiter sind bei einem Ludwigshafener Pharmakonzern ausschließlich damit beschäftigt, Gift zu produzieren. Schon in Kürze soll ein Stoff darin Hirnschlag-Patienten das Leben retten.

Feuchte Wärme herrscht in dem hellen Raum. Edward Lok greift nach einem hölzernen Stab mit einem Metallhaken an der Spitze und fährt damit in eine flache Plastikwanne. Kurz darauf hat er sie am Haken – die Schlange. Vorsichtig legt er das Reptil auf eine weiche Schaumgummiunterlage. Dann drückt er den Haken leicht in ihren Nacken. Ein rascher Griff mit der rechten Hand und der flache Kopf ist fixiert – keine Chance mehr für einen Biß. Den sich windenden Körper klemmt Lok unter dem Arm fest. Durch den Druck von Daumen und Zeigefinger sperrt die Schlange das Maul weit auf. Aus ihrem Oberkiefer ragen zwei lange, weiße, spitze Zähne. Lok hält den Schlangenkopf über den Rand eines Glases und beginnt, mit den Fingern vorsichtig die Giftdrüsen am Schädel zu massieren. Aus den Zahnspitzen tritt ein dottergelber Tropfen aus, wenig später fließt das Sekret schubweise ins Glas. Etwa zwei Minuten dauert das Melken, bei dem die Schlange rund 50 Milligramm Rohgift abgibt. Dann legt Lok sie mit dem Haken zurück in ihr Kunststoffheim. Dort erwartet sie als Belohnung eine Maus. Sofort schlägt die Otter ihre Zähne in das tote Tier und spritzt ihm ihr restliches Gift ein. Mit seiner Hilfe wird sie die Beute verdauen – Pause bis zum nächsten Melken. Alle drei Wochen wiederholt sich diese Prozedur für 3000 Malaiische Grubenottern in Europas größter Schlangenfarm. Erst vor wenigen Monaten hat die Knoll AG, das Herz des Pharmabereichs von BASF, in Ludwigshafen den Neubau in Betrieb genommen. Im linken Teil sind das Foyer, das Labor und die Büros untergebracht. Der rechte Teil ist die eigentliche Schlangenfarm. Im Erdgeschoß befinden sich auf 660 Quadratmeter Fläche 16 Schlangenräume, jeder mehr als 30 Quadratmeter groß. Neben den Grubenottern werden dort in kleinerer Zahl auch etliche andere Giftschlangen-Arten für Forschungszwecke und zur Gewinnung von Antiseren für Vergiftungsfälle gehalten. „Der Neubau war für die Techniker eine große Herausforderung”, sagt Roland Baldus, Projektingenieur der Knoll AG. Denn in der Schlangenfarm herrschen tropische Bedingungen: Die Raumtemperatur muß stets mindestens 26 Grad Celsius betragen, die Luftfeuchtigkeit über 70 Prozent. Damit die Außenwelt möglichst wenig Einfluß auf die Innenräume nimmt, erfolgt der Zugang in das Gebäude über zwei Schleusen. Im Obergeschoß wurde eine geballte Ladung Technik installiert: Klimageräte, Lüftungskanäle, Rohrleitungen und Filter, meß- und regeltechnische Geräte sorgen dafür, daß die exotischen Kollegen eine Etage tiefer stets optimale „Arbeitsbedingungen” vorfinden. Knapp fünf Millionen Mark investierte Knoll in die artgerechte Unterbringung seiner exotischen Mitarbeiter. Deren Karriere begann in den sechziger Jahren auf Malaysias Reisfeldern. Dort wimmelte es von Giftschlangen. Die meisten Unfälle gingen auf das Konto der Malaiischen Grubenotter (Fachname: Calloselasma rhodostoma). Fast täglich mußte der englische Tropenarzt Dr. Allistair Reid in einem Hospital in Kuala Lumpur Patienten behandeln, die von Grubenottern gebissen worden waren. Ihr Gift verursacht starke Schmerzen und Schwellungen, führt allerdings nur bei zwei Prozent der Gebissenen zum Tod. Reid fiel auf, daß das Blut der Opfer ohne Behandlung bis zu drei Wochen lang nicht gerann. Mit seinen Mitarbeitern gelang es ihm, aus dem Grubenotter-Gift den Wirkstoff zu isolieren, der die Blutgerinnung verhindert: Ancrod, ein Enzym aus der Gruppe jener Eiweißstoffe (Proteine), die die Stoffwechselvorgänge in Lebewesen steuern. Die Lizenz zum Reinigen des Schlangen-Rohgiftes sicherte sich die englische Twyford Pharmaceuticals Services LTD. Sie richtete in der Nähe von London die erste Schlangenfarm zur Ancrod-Gewinnung ein. Als Knoll Mitte der siebziger Jahre Twyford übernahm, zogen 600 Malaiische Grubenottern von der Themse an den Rhein um. Aus diesem Stamm entwickelte sich der heutige Bestand. Alle 3000 Exemplare sind gebürtige Ludwigshafener. Ursprünglich lebt Calloselasma rhodostoma allerdings auf Teilen der Malaiischen Halbinsel, in Laos und Thailand sowie auf Java und Sumatra. Die knapp 80 Zentimeter langen Weibchen und die etwas kürzeren Männchen sind äußerlich kaum zu unterscheiden. Ihr dreieckiger Kopf ist deutlich vom Hals abgesetzt. Die hell-rotbraun oder graubraun gefärbte Oberseite zeigt dunkelbraune, schwarz und weiß gesäumte Flecken. Vom Auge zum Mundwinkel verläuft ein breites, dunkelbraunes Band. Die Giftzähne im Oberkiefer können nach unten ausgeklappt werden. Die Schlange erbeutet vor allem Kleinsäuger und Vögel, Kriechtiere und Lurche. Die Familie der Grubenottern verdankt ihren Namen einer kleinen Einsenkung zwischen Augen und Nase. Lange war die Funktion dieses Grubenorgans rätselhaft. Heute wissen die Biologen, daß es sich um ein Sinnesorgan handelt, das extrem feinfühlig für Wärmestrahlung ist: Schon Unterschiede von 0,003 Grad Celsius erregen die Nerven. Auch bei völliger Dunkelheit nehmen die Schlangen damit die Körperwärme eines Säugetiers auf eine Entfernung bis zu einem halben Meter wahr – eine große Hilfe bei der Jagd. In der Schlangenfarm nützt ihnen das allerdings nichts. Hier leben sie wohlversorgt in sterilen Kunststoffwannen, die, in Sechserreihen übereinander gestapelt und ordentlich durchnumeriert, lange Regale füllen. Auf den ersten Blick wirkt das wenig artgerecht und auch nicht besonders naturnah. Doch die Bewohner fühlen sich offenbar wohl. Viele leben bis zu 14 Jahre und damit weit länger als in der freien Natur. Das ist vor allem ein Erfolg konsequent betriebener Hygiene. „Sobald ein Tier oder das Wasser verschmutzt ist, muß sauber gemacht werden”, erklärt Edward Lok. „Wird eine Maus nicht gefressen, werfen wir sie weg – sie darf nicht an andere Schlangen verfüttert werden. Außerdem stellen wir Tiere, die sich ungewöhnlich verhalten, sofort unter Quarantäne.” Seit 25 Jahren ist der gebürtige Holländer für das Wohl der Exoten verantwortlich. „In dieser Zeit gab es nie eine ernstzunehmende Erkrankung – höchstens mal ein Alterswehwehchen.” Auch schmerzhafte Begegnungen der Pfleger mit ihrer giftigen Klientel blieben die Ausnahme: Trotz des hautnahen Umgangs kam es in mehr als 25 Jahren nur zu fünf Bagatellfällen. Einmal war Lok selbst das Opfer: Beim Griff nach dem Kopf erwischte eine Grubenotter mit ihrem Giftzahn seinen Zeigefinger. Viele Monate lang plagten ihn Schmerzen. Doch er biß die Zähne zusammen und verzichtete auf eine Behandlung mit Antiserum. Loks umfassende Kenntnis der Giftschlangen ist regelmäßig bei der Vergiftungszentrale in München gefragt. Und wenn in Ludwigshafens näherer Umgebung eine vermeintlich giftige Schlange auftaucht, holen sich Polizei und Feuerwehr Rat bei den Experten der Knollschen Schlangenfarm. Dort gelangt das giftige Sekret normalerweise ohne Zwischenfälle ins Sammelglas. Das volle Gefäß kommt in einen Behälter mit einem Trockenmittel, unter Vakuum wird der Wasseranteil verdampft. Zurück bleibt Rohgift in Form gelber Kristalle, das so lange Zeit gelagert werden kann, ohne seine Wirkung zu verlieren. Zur Weiterverarbeitung verläßt das Gift die Schlangenfarm. „Ein paar hundert Meter weiter, in unserem Produktionsbetrieb für Arzneimittel, wird es unter großen Sicherheitsvorkehrungen in einer Flüssigkeit aus keimfreiem Wasser und Salzen aufgelöst, und es beginnt die aufwendige Reinigungsprozedur zur Gewinnung von Ancrod”, schildert Pressesprecherin Friederike Kanne den nächsten Schritt. Da das Rohgift nur zu einem kleinen Teil aus Ancrod besteht, muß es in seine Bestandteile zerlegt und die Ancrod-Fraktion abgetrennt werden. Dazu kommt es in einen Chromatographen, in dem sich Substanzgemische auftrennen lassen. Das gelöste Rohgift wird nacheinander durch drei Glassäulen gepumpt. Dabei lösen sich die unterschiedlichen Proteinbestandteile voneinander. Mit Hilfe von Säurewert- und UV-Messungen kann ein Computer den Ancrod-Anteil erkennen. Er wird aufgefangen, konzentriert und kommt dann in die nächste Säule. Dieser Reinigungsvorgang dauert mehrere Tage. Am Ende hat man aus 80 Gramm Rohgift und unter Verwendung von 270 Liter Salzlösung 300 Milliliter Ancrod-Konzentrat gewonnen, das unter Reinraum-Bedingungen gefiltert, verdünnt und auf Flaschen gezogen wird. Hat dann die Qualitätskontrolle ihr Okay gegeben, füllen Automaten die Ancrod-Lösung steril in Ampullen ab. Läßt sich das begehrte Gift nicht ohne die aufwendige Schlangenhaltung gewinnen? „Man hat versucht, Ancrod gentechnisch herzustellen”, berichtet die Knoll-Expertin Dr. Beatrice Rendenbach-Müller. „Das Problem besteht darin, daß es bisher nicht gelungen ist, gentechnisch exakt das charakteristische Muster bestimmter Zuckerreste herzustellen, die mit dem Protein verbunden sind. Und von diesen Zuckerresten hängt nun einmal seine Wirkung ab. Deshalb sind wir weiterhin auf die Schlangen als Wirkstoffproduzenten angewiesen.” Die aufwendige Giftgewinnung dient einem ehrgeizigen Ziel: Auf der Basis von Ancrod hat Knoll ein Medikament mit dem geplanten Handelsnamen Viprinex entwickelt. Mit ihm hofft man demnächst einen Durchbruch in der Behandlung des Schlaganfalls zu erzielen. Nach Krebs und Herzerkrankungen ist der Hirnschlag in den westlichen Industrieländern die dritthäufigste Todesursache. In Deutschland trifft er jährlich fast eine halbe Million Menschen. 1998 starben schätzungsweise 100000 Patienten an seinen Folgen – mehr als zehnmal so viele wie durch Verkehrsunfälle. Rund 80 Prozent der Gehirnschläge sind sogenannte ischämische Schlaganfälle. Dabei verklumpt Blut und verschließt Gefäße im Gehirn. Die Blutversorgung wird unterbrochen und es kommt zu schweren Schäden bis hin zu Lähmung und Tod. Der Stoff, der die Blutplättchen verklumpen läßt, ist Fibrin, ein Eiweiß. Seine Vorstufe, das Fibrinogen, ist ein Bestandteil des Blutes. Wird Fibrinogen aktiviert, etwa durch eine Verletzung der Gefäßwand, so wandelt es sich in Fibrin um. Dieser Faserstoff bildet ein dichtes Netz, das die Blutkörperchen am Fließen hindert. In diesen Mechanismus versucht man mit Medikamenten einzugreifen. Verschiedene Stoffe sind in der Lage, Blutgerinnsel aufzulösen, indem sie das Fibrin angreifen. Mit solchen Thrombolytika werden Herzinfarkt-Patienten in Nordamerika bereits standardmäßig behandelt. Bei der akuten Therapie ischämischer Schlaganfälle setzte man hauptsächlich auf den „Tissue Plasminogen Activator” (tPA), ein Medikament, das bisher nur in den USA und Kanada im Handel ist. In Deutschland soll es jetzt zugelassen werden. Plasminogen ist ein körpereigener Stoff, der im Blut in sehr geringen Mengen vorkommt. Er greift das Fibrinnetz des Blutpfropfens an und löst es auf. Das Manko: tPA ist mit einem starken Blutungsrisiko verbunden, und die Behandlung muß spätestens drei Stunden nach dem Schlaganfall beginnen. Nur fünf bis acht Prozent der Patienten erfüllen die Auswahlkriterien für tPA. Viprinex soll dagegen die akute Behandlung des Hirnschlags für einen großen Patientenkreis ermöglichen. Seit über zehn Jahren arbeitet man bei Knoll an der Entwicklung dieses Medikaments, die etwa 700 Millionen Mark verschlingen dürfte. Sein Wirkstoff Ancrod spaltet Fibrinopepsin A – einen Anteil des Gerinnungseiweißes Fibrinogen – , senkt den Fibrinogenspiegel und verflüssigt das Blutplasma. Damit kann das Blut in den blockierten Geweben besser fließen und die Sauerstoffversorgung gewährleisten. Außerdem verhindert Ancrod, daß sich weitere Thrombosen bilden, und es stimuliert die Auflösung bestehender Blutgerinnsel. „Time is brain” heißt das Motto bei der akuten Gehirnschlag-Behandlung. Mit dem neuen Medikament will man das schmale Zeitfenster von drei Stunden nach einem Schlaganfall auf sechs Stunden verbreitern. Gegenwärtig läuft in Europa eine große klinische Studie mit Ancrod. Dabei kommen von 950 Patienten nahezu 80 Prozent erst nach drei bis sechs Stunden zum Arzt. Wird Viprinex für ein Sechs-Stunden-Fenster genehmigt, ist jeder zweite Schlaganfall künftig ein Fall für Ancrod. Fünf Tage lang wird es intravenös als Dauerinfusion verabreicht. Die Blutungsgefahr ist gegenüber tPA deutlich reduziert. Noch in diesem Jahr will Knoll die Zulassung für Viprinex beantragen. Wird es wie erhofft 2001 auf dem US-amerikanischen Markt und in Europa eingeführt, muß der Hersteller in der Lage sein, vom ersten Tag an die Nachfrage zu befriedigen. Dazu haben die 3000 Grubenottern ihren Teil beigetragen und fleißig Ancrod auf Vorrat produziert, das im „ Hochsicherheitstrakt” von Knoll auf die Verarbeitung wartet – ein Schatz, der auch mit Gold nicht aufzuwiegen ist. Bald soll das heilsame Schlangengift Patienten vor den fatalen, oft tödlichen Folgeschäden des Schlaganfalls retten.

Hans W. Wolf

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